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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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bin ich. Obwohl du dir solche Mühe gegeben hast, mir Schach beizubringen … so dumm, ohne nachzudenken … und mein kostbarer Preis … über den sich meine Großmutter so gefreut hat … hinter ihrem Rücken habe ich ihn benutzt … bloß für ein schnelles Spiel ohne Würde … oh, es tut mir so leid!«
    Er schluchzte so heftig, dass er kaum sprechen konnte. Das Hemd des Meisters war von seinen Tränen völlig durchnässt.
    Der Meister strich ihm tröstend übers Haar und flüsterte: »Es wird alles gut, du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«
    Aber die Worte des Meisters brachten den Jungen noch mehr zum Weinen.
    »Wofür hast du denn das Geld ausgegeben?« fragte der Meister leise.
    »Für ein Kindermenü … im Kaufhaus … mit meinem kleinen Bruder zusammen …«
    »Ach so. Das ist fein. Darüber hat sich dein Bruder bestimmt gefreut, oder?«
    Der Körper seines Meisters war so weich und warm, dass der Junge die Augen schloss und sich langsam beruhigte. Wieder hatte er das Gefühl, als sinke er auf den Boden des Meeres.
    Draußen dämmerte es bereits. Am liebsten wäre er für immer in den Armen seines Meisters geblieben. Aus seinen geschlossenen Lidern trat nur noch selten eine Träne hervor.
    Sein ganzes Leben lang sollte sich der Junge fragen, wieso er an jenem Abend so hemmungslos geweint hatte. War es eine Art Vorahnung gewesen? Eine Vorahnung, dass es der letzte Abend war, den er zusammen mit dem Meister in seinem Bus verbrachte? Wenn er daran dachte, überkam ihn eine so große Trauer, dass ihm der Atem stockte und er am ganzen Körper zu zittern anfing.
    Doch dann hörte er von irgendwoher eine vertraute Stimme.
    »Nicht so hastig, mein Junge.«
    Die Stimme war sanft, aber deutlich vernehmbar, sodass er hochschreckte und sich unweigerlich umschaute. Was hätte er in diesem Moment dafür gegeben, wieder elf Jahre alt zu sein, sich an die Brust seines Meisters zu schmiegen und seinen Tränen freien Lauf zu lassen.
    Als er am nächsten Tag auf dem Heimweg von der Schule den Betriebshof überquerte und durch die Lücke im Zaun stieg, um den Meister zu besuchen, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Auf dem Gelände herrschte nicht die übliche Stille. Stattdessen vernahm er ein unheimliches Raunen, das immer lauter wurde, je näher er kam. Dann sah er die Menschenmenge. An den Fenstern des Wohnheims drängten sich die Neugierigen, sogar oben auf dem Dach hatten sich Leute versammelt … manche von ihnen schauten durch ein Opernglas und machten sich Notizen. Von überall her strömten die Schaulustigen auf das Gelände, Männer schleppten TV-Kameras, bauten Scheinwerfer auf oder redeten in ein Mikrofon. Einige der Zuschauer waren vergnügt, andere entsetzt. Ein paar beteten sogar. Sämtliche Augen waren auf den Bus gerichtet.
    Der Junge wollte zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurchschlüpfen, aber in dem Gewühl war kein Durchkommen.
    »Würden Sie mich bitte durchlassen? Ich muss zu meinem Schachunterricht.«
    Aber wie sehr der Junge auch bitten mochte, es beachtete ihn niemand.
    »Verzeihen Sie, aber mein Lehrer wartet auf mich. Wir müssen Schach spielen …«
    Schließlich gelang es ihm, durch die Beine der Anwesenden zu krabbeln. Von Weitem sah der Bus aus wie immer. Die bunten Fenster funkelten im Sonnenlicht, man konnte den Fahrersitz mit dem Armaturenbrett erkennen und das verdorrte Laub auf dem Boden. Aber aus irgendeinem Grund war um den Bus herum ein Seil gespannt, als Absperrung, damit niemand näher kam. Direkt neben dem Bus stand mit rasselndem Motor ein Bagger mit einem riesigen Greifarm. Er war viel größer als der Bus und überragte stolz den Sagobaum.
    »Das ist aber nicht der rechte Augenblick, um Schach zu spielen«, sagte jemand hinter ihm. »In dem Bus liegt ein toter Mann.«
    In diesem Moment heulte der Motor des Baggers auf. Wie auf Kommando setzte sich die Menschentraube in Bewegung. Der Junge wurde angerempelt und weggestoßen.
    »Bitte alle zurücktreten!«
    Ein Polizist blies in seine Trillerpfeife.
    »Gleich geht’s los.«
    »Womit fangen sie denn an?«
    »Na, ich denke, mit der Tür, oder?«
    »Aber was ist, wenn sie den Toten zerquetschen?«
    Das Raunen, das durch die Menge ging, wurde von dem Motorengeräusch übertönt. Mit aufgeschürften Händen und Knien stand der Junge da und versuchte verzweifelt, einen Blick auf seinen Meister zu erhaschen. Irgendwo hinter den Scheiben des Busses musste er doch sein. Der Bagger heulte erneut auf und hob drohend seinen

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