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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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Dynamik, um ihrem Gegner eine ungeheure Furcht einzuflößen. Aber der Kleine Aljechin ließ sich nicht einschüchtern. Er verstärkte seine Frontlinie und hielt so eine gewisse Balance aufrecht. Das Spiel wogte hin und her, eine Entscheidung war nicht abzusehen.
    Auch die Zuschauer, die anfangs noch aufgeregt auf jede Bewegung der Puppe geachtet hatten, waren inzwischen ganz ruhig und verfolgten wie gebannt die Partie. Niemand kam auf den Gedanken, sich einen Kaffee zu holen oder ein Stück Schokolade in den Mund zu schieben. Mit jedem Zug wurde deutlicher, dass der Schachautomat dem Namen Aljechin keine Schande bereitete.
    War das Spiel der Tochter des Vorsitzenden anfangs noch ruppig und unbefangen, wurde es gegen Ende der Partie immer anmutiger. Die Zeit des Herumtollens war vorbei, nun ging es um alles. Die Spannung war jetzt mit Händen zu greifen. Die weißen Figuren zitterten weniger, und auch die Bewegungen des Kleinen Aljechin wurden ruhiger. Da opferte seine Gegnerin die weiße Dame und rückte mit dem Turm vor auf h8. Die zum Zerreißen gespannte Luft begann zu vibrieren, was bis in die Dunkelheit unter dem Brett zu spüren war. Der Kleine Aljechin fühlte mit den Fingerspitzen den an den äußersten Rand des Spielfeldes gleitenden Turm. Es war nicht länger der tollkühne Turm von vorhin. Diese Maske hatte er nun abgelegt, und er zeigte sein wahres Gesicht. Auf dem Brett hatte er eine Linie gezogen, die nicht mehr angetastet werden konnten. Im Raum herrschte eisige Stille.
    Der Junge hielt sich Pawns Beutel vor die Brust und grub seine behaarten Lippen in die Falten des weichen Stoffs, um den vertrauten Geruch des Katers einzusaugen. Die Gelenke taten ihm weh, und seine Glieder waren taub bis ins Mark, aber diese Linie, die sich durch die Finsternis schnitt, war von einer Schönheit, die ihn seine Schmerzen vergessen ließ. Wenn ein Turm eine derart vollendete Bewegung ausführen kann, dann gibt es ganz bestimmt auch einen passenden Zug, um ihn zu Fall zu bringen, sagte er sich.
    Die Dunkelheit um ihn herum wurde immer dichter und fing an, ihm wie Blei auf den Schultern zu liegen. Er legte sachte die Finger an den Hebel und bewegte zuerst seine Dame auf a7, dann bei seinem nächsten Zug den König auf c7 und schließlich seinen Läufer auf b7. Bei diesem letzten Zug war ihm, als würde er mit Indira gemeinsam durch die Lüfte schweben. Zwar wurde dadurch nicht die majestätische Stille zerstört, die um den weißen Turm herum herrschte, aber er führte dazu, die Machtverhältnisse auf dem Spielfeld zu klären.
    In der Dunkelheit des Automaten wirbelten die ineinandergreifenden Zahnrädchen und zogen die große Triebfeder auf, um die Züge, die sich der Junge ausgedacht hatte, in die Fingerspitzen aus Quittenholz zu übertragen. Jede einzelne Komponente der Apparatur verrichtete schweigend ihren Dienst. Das fast unmerkliche Geräusch, wenn die Hand die Figur aufs Feld setzte und losließ, schwebte im Raum wie ein Seufzer.
    »Ich habe verloren.«
    Nachdem der weiße König matt gesetzt war, herrschte eine Weile Schweigen, bevor tosender Beifall ausbrach. Es war nicht so sehr die Anspannung, die sich darin entlud, sondern der ehrfürchtige Applaus galt vor allem den Spuren, die die beiden Gegner auf dem Brett hinterlassen hatten. Diese würden noch lange zu sehen sein.
    Die Stimme der alten Dame klang heiser und ihr Atem rasselte vor Anstrengung. Sie gratulierte dem Kleinen Aljechin, wie es die Etikette gebot. Nach fast zweistündigem Kampf glühte ihre anfänglich eiskalte Hand nun vor Hitze. Der Junge bedauerte, dass er ihr nicht persönlich danken konnte. Stattdessen drückte er vorsichtig auf den Knopf neben dem Hebel. Dankbar zwinkerte der Kleine Aljechin seiner Gegnerin zu.
    »Nun, meine Herrschaften, darf ich Sie in die ehemalige Männerumkleide bitten. Wir haben dort allerlei Erfrischungen für Sie bereitgestellt. Cognac, Bourbon, Wodka und Rum. Bitte machen Sie es sich bequem. Zu meinem Bedauern muss ich ihnen mitteilen, dass das Fotografieren leider streng verboten ist. Wie Sie sehen können, ist der Apparat sehr empfindlich, sodass es ebenfalls untersagt ist, die Puppe zu berühren.« Die Stimme des Generalsekretärs, der die Zuschauer ermahnte, drang diesmal nicht in den Kasten des Kleinen Aljechin.
    Die Notation seines grandiosen Debüts, die der alten Dame als Andenken überreicht wurde, war nach ihrem Tod verschollen und tauchte nie wieder auf. Außer den Personen, die an jenem denkwürdigen

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