Schwimmen mit Elefanten - Roman
Tag in der Damendusche anwesend waren, wusste niemand von dieser außergewöhnlichen Partie. Im Gegensatz zum PazifikSchachklub, der alle Aufzeichnungen in einem Safe aufbewahrte, um sie als Dokumente seiner glorreichen Geschichte sorgsam zu schützen, blieb eine Etage tiefer keine einzige Aufzeichnung erhalten. Es gab weder eine Vereinssatzung noch ein Mitgliederverzeichnis oder einen Spielplan. Es existierte nichts, was in irgendeiner Weise mit dem Klub am Grunde des Meeres in Verbindung gebracht werden konnte. Die Notationen waren auf gewöhnlichem Papier ohne Wasserzeichen oder goldenes Klubwappen vermerkt. Man steckte sie nach der Partie in einen neutralen Umschlag, den man den Mitgliedern überreichte. In dem ehemaligen Schwimmbad gab es nirgendwo Schränke mit Schubladen, wo man Kopien davon aufbewahren konnte. Sobald die Zuschauer auf dem Heimweg waren, fand sich kein einziges Zeugnis mehr, kein einziger Beweis, was für eine unvergessliche Partie hier gespielt worden war. Man konnte meinen, der Klub am Grunde des Meeres existierte überhaupt nicht.
Erst nachdem sämtliche Zuschauer verschwunden und die Plastikstühle weggeräumt waren, durfte der Junge aus seinem Versteck hervorkriechen. Seine Glieder waren so steif, dass er es ohne Miira, die ihm die Hand reichte und ihn herauszog, unmöglich geschafft hätte. Wegen des grellen Lichts musste er die Augen geschlossen halten. Mit letzter Kraft sank er auf die Bodenfliesen im Duschraum.
»Alles in Ordnung?« raunte ihm Miira, die neben ihm kniete, ins Ohr. Dann streichelte sie ihm den Rücken, ganz sanft, aus Sorge, sie könnte ihm noch mehr wehtun.
Der Junge hätte Miira gerne angeschaut. Aber seine Augäpfel schmerzten derart, als hätte das Licht sie zerdrückt. Ununterbrochen liefen ihm die Tränen herunter, und sosehr er sich auch bemühte, die Lider ließen sich nicht öffnen.
»Ach, das ist alles nicht so schlimm.«
Mühsam brachte er ein Lächeln zustande, um Miira nicht zu beunruhigen. Aber sein Körper wehrte sich gegen jede unnötige Bewegung, krampfhaft verharrte er in jener Haltung, die er in der Dunkelheit so lange eingenommen hatte. Die Fliesen, auf denen er lag, waren hart und kalt. Als er mühsam den Kopf in Miiras Richtung hob, tauchte hinter seinen geschlossenen Lidern nur schemenhaft die Silhouette der Taube auf. Miira streichelte ihn die ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen.
Als er nach Hause zurückkehrte, war sein Großvater bereits in der Werkstatt und sein kleiner Bruder in der Schule. Erleichtert kroch er in sein Bett und streckte sich aus. Auf dem Schachbrett über ihm ging er noch einmal die Partie mit der Tochter des Vorsitzenden durch. Und wieder berührte ihn die einzigartige Melodie der ineinander verwobenen Züge. Es war nicht sein Sieg, über den er sich am meisten freute, sondern dass er dieser älteren Dame zu einer wundervollen Partie hatte verhelfen können.
Auf dem Schachbrett an der Decke erschien ihm der weiße Turm, der sich so bezaubernd seinen Weg gebahnt hatte, und er bedauerte, dass er nie Gelegenheit bekommen würde, seine Gegnerin kennenzulernen. Was für ein Mensch sie wohl war?
»Gute Nacht!«
Als er die Wand berührte, fiel ihm ein, dass Miira gar nicht mehr hinter der Wand war, da musste er lächeln. Seine Freundin lebte nun am Grunde des Meeres, jenseits seiner Handfläche war nur noch ein schmaler, leerer Spalt.
9
Im Alter zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren, absolvierte der Kleine Aljechin unzählige Partien im Klub am Grunde des Meeres. Seine Gegner waren ganz verschieden, von Nachwuchsspielern, wie er sie bei dem Schachturnier im Kaufhaus kennengelernt hatte, bis hin zu international anerkannten Schachgroßmeistern. Auch die Umstände, unter denen der Kleine Aljechin antrat, waren sehr unterschiedlich: als Attraktion auf Geburtstagsfeiern, bei politischen Empfängen, auf Treffen von Liebhabern alter mechanischer Puppen, während konspirativer Gespräche von Regierungsbeamten, bei Rendezvous von Liebespaaren, als anregendes Gesprächsthema oder zum reinen Amüsement. Es gab Zeiten, wo der Raum von Zuschauern überquoll, aber auch Nächte, in denen die Spieler ganz alleine waren. Nur Miira und ihre Taube waren stets zugegen.
Der Junge wusste nie im Voraus, wer sein Gegner sein würde und was für ein Publikum zu erwarten war. Aber er konnte an den Schachzügen seiner Kontrahenten deren seelische Verfassung ablesen: Wie die Person gestimmt war, ob sie fröhlich oder ernst war,
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