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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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ihnen lagen auf zwei Haufen getürmt weiße und schwarze Roben, die gehorsam darauf warteten, dass Miira sich ihrer annahm. Ihre Anspannung aus den Stunden, als sie auf dem Spielfeld getragen wurden, hatte sich gelöst, nun lagen sie erschöpft da und leckten ihre schmerzenden Wunden. Miira nahm jede einzelne von ihnen behutsam in die Hand und hielt sie mit prüfendem Blick gegen das Licht der Neonröhre, um die schadhaften Stellen ausfindig zu machen, die sie mit einer Stecknadel markierte.
    Dann nahm sie eine hauchdünne Nadel und reparierte die aufgegangenen Nähte mit feinen Stichen. Es sah so aus, als würde alles an ihr, der Blick, ihr Herzschlag, die beiden Zöpfe und die Taube, von den filigranen Nähten der Gewänder aufgesogen werden. Das zu sehen gab dem Jungen das Gefühl, er habe nichts mehr zu befürchten auf dieser Welt.
    »Du kannst gut nähen«, sagte er.
    »Ach, das ist nicht der Rede wert. Ich habe früher sämtliche Kostüme für unsere Auftritte als Zauberkünstler selbst geschneidert.«
    Verschämt zog sie die Schultern hoch und konzentrierte sich noch mehr auf ihre Näharbeit.
    In diesem Moment musste der Junge plötzlich an die erste Partie denken, die er gegen seinen Meister gewonnen hatte, und er stellte auf dem kleinen Schachbrett die Züge des Läufers in der mittleren Spielphase nach, die damals zur entscheidenden Wende geführt hatten. Obwohl so viele Jahre vergangen waren, hatte diese Partie nicht an Glanz verloren. Wie die Figuren des Meisters klangen, welcher Ausdruck auf Pawns Gesicht lag, der Duft des Gebäcks – die ganze Szenerie im Autobus lebte hier auf dem Spielbrett wieder auf. Ebenso deutlich erinnerte er sich an das sonderbare Gefühl, das ihn damals unter dem Schachtisch überkommen hatte. Er war in einem Meer geschwommen, das sich auf dem Dach des Kaufhauses befand, und er hatte das Gefühl gehabt, nur noch aus Lippen zu bestehen, Lippen, die sich perfekt aneinanderschmiegen, als hätte nie ein Arzt Gott ins Handwerk gepfuscht. Und er war nicht allein gewesen. Neben ihm, mit flatternden Ohren und schwingendem Rüssel, paddelte der Elefant, ohne seine eiserne Fußfessel, losgelöst vom Betondach des Kaufhauses. Und Miira schwamm im Innern einer großen Luftblase an Indiras Seite. Der Ozean des Schachs dehnte sich endlos aus und war unermesslich tief, aber sie hatten nichts zu befürchten.
    »So, das wäre geschafft.«
    Miira legte das erste ausgebesserte Gewand beiseite und nahm sich das nächste vor. In dem fluoreszierenden Licht, das die weiße Seide zurückwarf, wirkten ihre Wangen wie feuchte Membranen. Mit einem Läufer in der Hand betrachtete der Junge sie eine Weile.
    Niemand klopfte an die Tür der ehemaligen Damendusche. Wie auf dem Meeresgrund herrschte hier nichts als Stille. Die aneinandergereihten Duschen hatten alle die Köpfe gesenkt, als wollten sie nicht stören. Auch die Wasserhähne, Abflüsse und die Ringe der Duschvorhänge hielten den Atem an.
    Sie sprachen über das kleinste Schachspiel der Welt. Miira beschrieb ihm, wie winzig es sei, und der Junge malte sich aus, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn man damit spielte. Die meisten Besucher des Museums hatten es nicht einmal bemerkt. Ausgestellt wird es in Vitrine II-D, die sich im ersten Stock in der hintersten Ecke befindet, wer zerstreut daran vorbeiläuft, übersieht es schlichtweg. Vielleicht denkt man, bei diesem Brett handelt es sich um billigen Trödel. Aber warum hängt da eine Lupe? Neben dem Brett stehen Wikinger-Skulpturen aus Walrosszähnen und Kristallfiguren, die alle Blicke auf sich ziehen.
    »Walrosszahn und Kristall?«
    »Ja, allerdings ist es ziemlich einfältig, wenn man die Besucher durch die Seltenheit der Materialien beeindrucken will, oder?«
    »Ganz meine Meinung. Ein fein ausgearbeitetes Muster in einen Dattelkern zu ziselieren ist weit kostbarer. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er vielleicht in den Wüstensand gespuckt wurde und dann in den Dünen verschollen war.«
    »Nur wer das zu schätzen weiß, wird es auch bemerken. Immerhin ist es ein richtiges Schachspiel. Man könnte genauso gut sagen, dass die wahren Kenner keine Lupe brauchen. Ohne mit der Wimper zu zucken, schmiegen sie ihre Wange an die Glasscheibe und halten dabei den Atem an, um sie nicht beschlagen zu lassen, während sie das ausgestellte Objekt aufmerksam betrachten. Als wollten sie es sich mit den Augen zu eigen machen. Es mag paradox klingen, aber letztendlich ist es das Gleiche, ob man ins Innere

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