Schwimmen mit Elefanten - Roman
hinabzugleiten.
Schließlich hatte jede Figur ihre angestammte Position eingenommen. Alles sah so aus wie auf einem richtigen Schachbrett: König und Dame standen in der Mitte, die anderen Figuren reihten sich daneben auf. Kein Großmeister wäre in der Lage gewesen, seine Figuren anmutiger aufzustellen, als es hier geschah. Obwohl sich ihre Gewänder manchmal berührten, war keiner dem anderen in die Quere gekommen.
Der Junge würde mit Weiß spielen. Nachdem er den Einzug der Figuren verfolgt hatte, atmete er tief durch und nahm das Mikrofon in die Hand. Durch einen schmalen Fensterschlitz im Regieraum gegenüber konnte er schemenhaft die Umrisse seines Gegners erkennen. Er schien ein kleiner, etwas dicklicher Mann zu sein. Obwohl es hier im Prinzip nicht anders zuging als im Inneren der Puppe, wo der Junge weder seinen Rivalen noch das Brett vor Augen hatte, machte er sich trotzdem Sorgen. Verglichen mit dem Hebel lag das Mikrofon sehr schwer in seiner Hand, und die Abstellkammer war natürlich größer, so groß, dass der Junge sich unwohl fühlte. In einer Ecke standen ein paar Besen herum, und in den Regalen herrschte ein ziemliches Durcheinander: alte Schwimmleinen, verstaubte Rettungsringe, Megafone, Thermometer …
Ungeachtet der Ermahnungen des Generalsekretärs, sich keinesfalls blicken zu lassen, stand der Junge reglos an der Luke und presste seine Stirn gegen die Scheibe. Die Zuschauer waren ohnehin vom Geschehen unten im Becken so gebannt, dass niemand auf die Abstellkammer achtete.
Der Junge schaltete das Mikro ein.
»Bauer von e2 nach e4.«
Erschrocken über seine unerwartet laute Stimme, die durch den ganzen Raum hallte, wäre er beinahe von der Kiste gefallen. Sie war so grotesk verzerrt, dass sie weder einem Mann noch einer Frau zuzuordnen war, auch keinem Kind oder einem Erwachsenen. Sie klang vielmehr wie das drollige Keckern eines bunt gefiederten Zwergpapageis. Das Echo war noch nicht verhallt, als der Bauer zwei Felder vorrückte. Von der Abstellkammer aus war nur die weiße Kugel auf dem Kopf des Bauern zu erkennen, die über dem Beckenrand hervorlugte.
»Bauer von c7 auf c5.«
Sein Gegner hörte sich an wie ein brüllender Tiger, der durch den Dschungel grollte. Daraufhin bewegte sich eine der schwarzen Kugeln zwei Felder weiter. Wenn Indira dieses Brüllen gehört hätte, wäre sie bestimmt vor Angst erstarrt, dachte der Junge. Miira warf einen Blick hinunter ins Becken und notierte dann sorgfältig den Zug. Die Taube blieb trotz des schrecklichen Lärms aus den Lautsprechern reglos wie immer.
So ging es immer abwechselnd. Papagei, Tiger, Papagei, Tiger, Papagei, Tiger. Obwohl die beiden Kontrahenten die Eröffnungsphase bereits hinter sich hatten, fand der Junge einfach nicht zu seinem Spiel. Ohne das vertraute Klacken der Figuren war er völlig orientierungslos. Aber sosehr er auch die Ohren spitzte, es drang kein Laut aus dem Becken. Alles, was er hören konnte, war das Rascheln der wallenden Gewänder.
Doch was ihn am meisten verwirrte, waren die Ausmaße des Spielfeldes. Jedes Mal, wenn eine Figur geschlagen wurde und das Becken verlassen musste, schien das Feld zu wachsen. Seine Hand, mit der er das Mikrofon umfasste, war schweißnass. Um sich zu beruhigen, presste er seine Lippen so fest an die Scheibe, wie er nur konnte.
Wenn doch wenigstens die alte Dame seine Gegnerin gewesen wäre. Dann hätte er sicher mit mehr Hingabe gespielt. Dem kleinen Mann im Regieraum hingegen fehlte es vor allem an Mut und Fantasie. Er nahm immer den einfachsten Weg und konterte mit halbherzigen Angriffen, die weder zweckdienlich noch überraschend waren.
»Läufer von g5 nach f4.«
Die geschlagenen Figuren kletterten leise über die Leiter nach oben und verschwanden in den ehemaligen Umkleideräumen, die weißen zu den Damen, die schwarzen zu den Herren.
»Turm von d3 nach h3.«
Im Verlauf der Partie wurden die Züge weitläufiger, aber die Figuren blieben gelassen. Nie wurden ihre Schritte hastig oder der Rolle, die sie innehatten, unwürdig. Nicht einmal ein Räuspern war zu hören.
Als die Partie in die entscheidende Phase trat und das Spielfeld sich leerte, dehnte sich das Schwimmbecken immer weiter aus. Der Junge hatte das Endspiel immer geliebt, wenn der Druck auf den bedrängten König größer und größer wurde und die verbleibenden Figuren verbittert darum kämpften, wer nun über das Spielfeld herrschen konnte. Doch nun wollte er die Partie so schnell wie möglich hinter sich
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