Schwindel
Gedanken krampfte sich mein Magen zusammen. Ich stellte mir vor, wie ein Kerl mit wurstigen, fettigen Fingern brutal
Seite für Seite umschlug, sensationslüstern, seibernd die Unschuld meiner Aufzeichnungen befleckte, die Bindung des zarten
Büchleins einriss und es dann, nachdem er seinen Spaß gehabt hatte, achtlos in die Ecke schmiss.
»Eva? Nicht weinen! Sollen wir fahren? Soll ich unsere Sachen packen und dann hauen wir ab? Los! Wir vergessen das hier, wir
machen noch ein anderes Mal Urlaub, wir fliegen in den Süden oder so, wir geben uns noch eine Chance!«
Die Idee war verlockend. Sonne, Wärme, gute Laune. Keine Wälder, keine Cliquen, keine üblen Überraschungen.
»Aber das will der Typ doch nur!« Ich sprang auf. »Mensch, Julian, ich könnte dir locker erzählen, was in meinem Tagebuch
steht, es ist nichts Wildes, Schlimmes. Ich könnte es sogar Laura erzählen. Ich bin nicht wirklich erpressbar. Da steht nicht
drin, dass ich heimlich Drogen nehme oder meinen Eltern regelmäßig Geld stehle. Darin ist einfach mein mickriges kleines Leben
beschrieben, mein Alltag, meine Ängste, meine Peinlichkeiten. Es ist einfach so, als würde dir einer in der Fußgängerzone
die Klamotten klauen und du stündest in Unterwäsche da!« Meine Stimme war laut geworden,mein Gesicht rot. Ich sah ein ungeschöntes Spiegelbild vor mir: die weiße Spitze der Wäsche angegraut vom Waschen, der Bauch
darunter etwas speckiger als erwünscht und die Beinhärchen seit der letzten Epilation gnadenlos am Nachwachsen. Ich war bestimmt
kein Monster, aber eben auch kein Model, ich war einfach natürlich und durchschnittlich und ich hatte ein Recht auf eine Privatsphäre,
die niemanden etwas anging!
»Eva, ist doch gut. Ich …« Julian stand auf, nahm meine Hand, wusste nicht, was sagen, wartete.
Dies wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, ehrlich mit ihm zu sprechen. Ich spürte eine Offenheit bei mir und bei ihm. Wir waren
uns wieder nähergekommen, auch wenn ich im festen Bewusstsein, dass wir uns trennen würden, mit ihm geschlafen hatte. Nun
konnte jeden Moment die Verliebtheit, das Schöne, wieder auflodern – doch gerade da fuhr ein Auto auf den Hof und Laura, Mickey
und Dustin stiegen aus.
Aber vielleicht bewahrte mich dieser verfrühte Besuch ja auch davor, mich zu sehr zu verplappern? Wenn man so etwas vorher
wüsste!
Julian schien mitbekommen zu haben, dass gerade eben eine wichtige Gelegenheit verstrichen war, das Vertrauen in unsere Beziehung
zurückzugewinnen. Zwischen uns fand ein wehmütiger Blickwechsel statt, es war, als würden wir es beide stumm bedauern.
Dennoch merkte ich bald, dass es mir guttat, Menschen um mich zu haben. Obwohl ausgerechnet Chris fehlte, weil er ein Handballspiel
hatte, war es okay, dass wir uns gemeinsam an den Wohnzimmertisch setzten,ins Kaminfeuer guckten und den ersten Glühwein der Saison probierten.
Laura zeigte mit traurigem Stolz eine Geburtstagskarte von Alina, die sie selbst gemalt hatte – Laura hatte die Karte jetzt
in ihr Portemonnaie gesteckt. Sie erzählte, wie sehr man sie und Mickey bei der Gedenkstunde am Morgen mit Fragen bombardiert
habe und welchen Quatsch die Leute im Ort schon redeten. »Da sagt die Cindy doch zu mir, sie hätte gehört, Alina sei nackt
gewesen und mit achtzehn Messerstichen getötet worden.«
»Kenn ich, die Story«, ergänzte Dustin. »Ich habe heute Morgen erst mal ausgeschlafen, das brauchte ich einfach. Als mir meine
Mutter so um zwölf ’nen Kaffee bringt, meint sie zu mir, in Niederlückendorf sei auch ein Mädchen verschwunden.«
»Serientäter?«, fragte Julian alarmiert.
»Ach was«, winkte Mickey ab, »die ist wieder aufgetaucht, die hat nur bei ihrem Freund gepennt und den Alten nicht Bescheid
gesagt.«
»Aber wie schnell das geht, dass sich so was rumspricht, stimmt’s?«, fragte Laura und stieß mich mit dem Ellbogen an. Das
sollte wohl freundlich gemeint sein und ich nickte ihr auch zu, dachte aber gleichzeitig, wie schnell die Mund-zu-Mund-Post
eben auch gehen würde, wenn der Finder meines Tagebuchs seine Drohung tatsächlich wahrmachen und mein Innenleben in den Gassen
Munkelbachs plakatieren würde. Laura hatte wohl einen ähnlichen Gedanken. »Und du wirst erpresst?«, fragte sie und schüttelte
ihre weißblonde Mähne nach hinten. »Also, von uns jedenfalls nicht! Dustin lag im Bett und Mickey und ich waren den ganzenVormittag in der Schule, da kannst du jede Menge
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