Schwindel
war das gewesen? Ich wusste es nicht mehr, wollte
auch nicht wissen, wie viele Andeutungen ich möglicherweise nicht verstanden hatte.
»Es war wirklich nur ein Spaß. Das sieht auf den Bildern wilder aus, als es war. Das war nicht mehr als einmal Rumkuscheln
und ein Bussi. Es konnte auch gar nicht mehr werden, denn es standen tausend Leute drumrum.«
»Vergiss es, Esra.« Ich hatte keine Lust, mir ihre Entschuldigungen anzuhören, und setzte mich demonstrativ auf eine Tribüne
am Rand der Tanzfläche, während die anderen weiter in Richtung Cocktailbar gingen.
»Es hätte überhaupt nie jemand noch einmal daran gedacht oder sich darüber aufgeregt, wenn Mirko nicht diese Fotos gemacht
hätte.« Esra war hartnäckig und setzte sich neben mich.
»Dein Problem.« Ich blickte auf die tanzenden Jugendlichen. Die meisten von ihnen waren jünger als wir, kamen wahrscheinlich
her, weil in der Gegend sonst nichts los und die Getränke billig waren. Moment! Schlängelte sich da hinten nicht Chris durch
die Menge? Sollte ich zu ihm gehen, ihn ansprechen? Aber wenn er derjenige war?
Esra zog an meinem Ärmel. »Als Mirko mir am Donnerstagmorgendie Fotos gegeben hat, hab ich mich im Klo eingeschlossen und erst mal geweint.«
Jetzt sollte ich wohl auch noch Mitleid mit ihr haben, was?
Chris verschwand aus meinem Blickfeld. Mehr zu mir selbst sagte ich: »Ich kenne das Gefühl, wenn man erpresst und eingeschüchtert
wird. Das zieht einem den Boden unter den Füßen weg.«
»Ja. Bist du auch schon mal …« Esra klang ehrlich erstaunt – Anteil nehmend und interessiert.
Mein abweisender Schutzpanzer bekam Risse. Ich seufzte. Es war an sich Quatsch gewesen, sie zu verdächtigen. Sie hätte das
Tagebuch schließlich nur durch einen aus der Clique bekommen und sich mit dessen Hilfe zur Mühle fahren lassen können. Ich
schob die Sache mit Julian einmal zur Seite und nahm sie in diesem Moment einfach als ein Mädchen, das ein ähnliches Problem
hatte wie ich. In zwei Sätzen erzählte ich ihr von meinem Tagebuch.
Esra schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand so was macht. Aber es gibt solche Menschen. Was haben
Julian und ich denn so Schlimmes getan? Einen Jux. Ehrlich! Das Ganze hat nicht länger als fünf Minuten gedauert. Aber Schleicher
glaubt, er kann euch auseinanderbringen und mir das Leben versauen. So ein Mistkerl! Andere dagegen sind total unsensibel
und denken gar nicht über das nach, was sie anrichten. Unser Direx zum Beispiel: Zwei Wochen nach den Sommerferien hat er
in der Schule eine Kleiderordnung eingeführt. Er will nicht, dass manche Mädchen so in die Schule gehen, als wollten sie in
die Disco.Er will ›angemessene Kleidung‹. In dem Zusammenhang sind auf unserer Internetseite dann vor einer Weile auch Fotos von Alina
aufgetaucht.«
Ich horchte auf. »Von
der
Alina?«
»Ja. Ich habe die Seite nicht gesehen, weil die Schulleitung sie am nächsten Tag sofort entfernt hat. Aber wie ich gehört
habe, müssen die Bilder extrem unappetitlich gewesen sein. Alina mit supertiefem Ausschnitt und von der Seite, wie sie sich
bückt. Man sah wohl ihre Speckrollen, die Unterwäsche, du weißt schon …«
»Minirock und Maxibeine, das klingt nach Laura!«
»Für so was ist Laura viel zu dumm und feige. Außerdem wäre sie nie an den Code für die Internetseite gekommen. Schüler kennen
den nicht. Einer von den Lehrern muss sie nachträglich in den offiziellen Text der Schulleitung eingefügt haben. Deshalb hat
sich der Direx auch offiziell bei Alina und ihrer Familie entschuldigt und das Thema Kleiderordnung ist vom Tisch. Es gab
eine Menge Diskussionen deswegen. Angeblich war das Ganze ein Versehen, aber das glaube ich jetzt nicht mehr.« Esra strich
sich die schwarzen Haare zurück, machte ein ernstes Gesicht und senkte die Stimme. »Alina hatte nämlich einen Verdacht. Sie
war vor ein paar Tagen noch bei uns, weil sie meinem kleinen Bruder Nachhilfe in Englisch gegeben hat. Sie sagte, es wäre
kein Zufall, dass die Fotos ausgerechnet sie zeigten. Jemand wollte sie damit bewusst einschüchtern und fertigmachen, hat
sie behauptet. Ich hielt das bisher für Quatsch, zumal Alina immer viel Fantasie gehabt hat. Aber jetzt ist sie tot.«
Ich spürte, wie sich meine Nackenhärchen aufstellten.Einschüchtern, fertigmachen, bloßstellen – und das Ganze einfach so. Glich das nicht genau dem, was man mit mir und meinem
Tagebuch
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