Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
Morde an kleinen Mädchen und so lesen.«
Sie wusste, dass ich Otto Wendels Handbuch der Tatortuntersuchung gelesen hatte und mich in Zeitungsbänden in legendäre Mordfälle an Mädchen vertieft hatte. Ich merkte jedoch, dass sie vom Realismus auch nicht besser schlafen würde.
Lillemor isst ihre Nudeln,
ohne Licht anzuknipsen, denn sie fürchtet, Max würde mit einem Taxi kommen und zu ihrem Fenster hochschauen. Sie hat ihren Anrufbeantworter abgehört. Im Laufe von fünf Mitteilungen wechselte seine Stimme von Erregtheit über kaum verhohlene Wut und winselndes Flehen bis hin zu resignierter Quengelei. Dieses schwarzzottige Knochengerüst befindet sich in Auflösung.
Ihr Handy ist abgestellt, seit sie die Königliche Bibliothek betreten hat; sie schaltet es jetzt ein, und sofort beginnt es zu klingeln, doch sie nimmt den Anruf nicht entgegen. Die SMS, die es ihr anzeigt, ruft sie nicht auf, sondern schaltet das Gerät aus. Doch dann überlegt sie es sich anders und schaltet es wieder ein. Als sie selbst eine SMS schreiben will, liest sie immerhin seine Nachricht.
drgd mtndr reden
gr Sorge wg Manus
Sie tippt jetzt ein:
Last Minute nach Palma
bin in Kastrup
bis in 14 Tg
Bevor sie die Nachricht abschickt, überlegt sie es sich jedoch anders, löscht sie und beginnt von vorn. Warum muss man beim Lügen immer so ängstlich realistisch sein? Sie tippt:
Last Minute
Da fällt ihr Blick auf Svensk Botanisk Tidskrift auf dem Couchtisch, und sie löscht es wieder. Jetzt schreibt sie voll Zuversicht:
Unverhofft Platz frei Ägypten
Botanikreise Täckholms Spur
bin in Kastrup
bis in 14 Tg
Nach kurzem Überlegen fügt sie noch hinzu:
Die Wüste blüht
Lillemor
Dann nimmt sie den Manuskriptpacken, geht ins Schlafzimmer, das zum Hof hin liegt, schließt die Tür hinter sich und schaltet die Bettlampe ein.
Schmöker Dunkelheit
Es war nicht so, dass ich mich damals im Engelska Parken an eine Person herangemacht hätte, die ich nur vom Sehen her kannte. Ich war seit Langem mit ihr bekannt und hatte ihr schon öfter einen Gefallen getan.
Während der Schulzeit half ich ab und zu in der Bibliothek in Kramfors aus, wo ich auf den kleinen Papierflügel im hinteren Einbanddeckel das Rückgabedatum stempeln durfte. Die Stempelfarbe war violett, und in den populären Romanen reihten sich die Daten in leicht krummer Linie bis weit nach unten. Lillemor lieh sich dagegen Bücher aus, in denen nicht viele Stempel waren. Sie kam mit allen Teilen der Forsyte Saga im Arm an, und ich sagte natürlich, dass sie nicht so viele Bücher auf einmal ausleihen dürfe.
»Ich lese schnell«, sagte sie. »Und ich mag vielbändige Romane, weil sie ein Weilchen reichen.«
Als sie mit drei Bänden von Martin du Gards Die Thibaults ankam, klagte sie, dass der Rest ausgeliehen sei, und zwar schon lange. Vor dem Hintergrund meiner frisch erworbenen Katalogisierungskenntnisse sagte ich ein bisschen überheblich, Honoré de Balzacs La comédie humaine sei etwas für sie. Von dem Gedanken an einen Romanzyklus in fünfundachtzig Teilen war sie hellauf begeistert, und ich musste gestehen, dass wir von Balzac nicht so viel in der Bibliothek hatten. So viel war wohl auch gar nicht übersetzt. Ich wurde freilich neugierig auf das Mädchen, und als ich Die Thibaults ausgelesen hatte – die fehlenden Bände hatte nämlich ich –, nahm ich sie und suchte das Haus, in dem Lillemor mit ihren Eltern wohnte.
Genau wie ich war sie ein Einzelkind, doch im Unterschied zu mir arbeitete sie offensichtlich nicht in den Ferien, denn ich fand sie in einer Hängematte, die zwischen zwei Ebereschen gespannt war. Es war ein regnerischer Tag, und Lillemor lag, in eine braungraue Decke gehüllt und mit einem bezogenen Kopfkissen, unter einem Regenschirm und las so versunken, dass sie mich erst bemerkte, als ich direkt vor ihr stand. Als sie den Blick hob, sah sie verwirrt drein. Es stellte sich heraus, dass sie mitten im Schluss des dritten Teils und bei Antoine Thibaults Selbstabrechnung nach der tödlichen Injektion war. Sie schluckte ein paarmal, bevor sie etwas sagte.
Als sie sah, welche Bücher ich im Arm hatte, fragte sie: »Hast du das mit dem Kind gelesen – mit der Injektion?«
Selbstverständlich hatte ich das gelesen.
»Es ist hart, ein sterbendes Kind mit einem zappelnden Huhn zu vergleichen«, sagte sie.
»An seinem Mitgefühl kannst du aber nicht zweifeln.«
Dass ausgerechnet sie, dieses adrette Ding, Sachen las, die Ekel und Mitleid
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