Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
draußen bei Graneberg begleitet. Dann wurde mir klar, dass ich in einem ausgekühlten Sommerhaus unter feuchten Decken lag. Im Schlaf drangen Geräusche aus meinem Leben an die Oberfläche. Ich hörte Vaters Pantoffeln auf dem Linoleum und das bissige Geklapper der Halda, wenn Lillemor unsere Geschichten ins Reine schrieb.
Während ich noch im Halbschlaf lag, kam der schmutzige alte Knacker wieder. Und er machte mir wieder genauso viel Angst wie damals, als ich die Krebse bezahlte, die Lillemor von ihm bekommen hatte. In seiner dunklen Schmiede mit der vom Rußgeruch noch beißenden Luft hatte ich versucht, die Angst zu unterdrücken. Er hatte sich in der Ecke mit irgendetwas zu schaffen gemacht, was ich nicht erkennen konnte. Ich hatte den Fünfziger zwischen den Fingerspitzen gehalten und mich davor gehütet, zu viel zu sehen. Aber die Erinnerung sog dieses Dunkel an, und als mein Bewusstsein zwischen Schlaf und Wachen schwankte, drang sie an die Oberfläche.
In welcher Gehirnhälfte die Vernunft auch immer stecken mag, sie funktionierte, wenn ich aufwachte und mir sagte, dass ich mich an etwas zu erinnern glaubte, was ich in der Dunkelheit der Schmiede gar nicht gesehen haben konnte. Folglich war es ein Hirnsausen und ein Albtraum.
Aber ich hatte es gesehen, immer und immer wieder, wenn ich schlief oder halb wach war.
Lillemor hatte ich erzählt, dass mir im Traum der Alte in der Schmiede erscheine und ich dann immer starr, mit trockenem Mund und offenen Augen aufwachte.
»Ich habe geschlafen, die Augen dabei aber weit aufgerissen, kannst du das verstehen?«
Da hatte sie mich ausgelacht.
»Erkennst du das nicht? Den Alten. Das Dunkle, Grauenerregende, womit er sich zu schaffen macht. Willst du etwa sagen, du weißt nicht, was das ist?«
»Nein«, sagte ich. »Wenn ich es wüsste, brauchte ich doch keine Angst zu haben.«
»Das ist Anna Karenina«, sagte sie. »Das Männlein mit einem Gerät, das Anna Angst macht.«
Genau so drückte sie das aus, und sie glaubte, das Grauen auf diese Weise wie mit einer Pinzette einfach auszupfen zu können. Das-Männlein-mit-einem-Gerät-das-Anna-Angst-macht klang wirklich nicht gefährlich. Das hatte sie sich wohl ursprünglich zurechtgelegt, um es in einem Prüfungsseminar in Literaturgeschichte zu referieren und dann wirkungsvoll zum sozialen Kontext oder der Gestaltung des Unbewussten überzugehen.
Sie wusste nicht, dass das, was man gelesen hat, zu gelebtem Leben wird. Sie begriff nicht, dass die Bilder, die das Gelesene hervorruft, in eigene verwandelt werden, nicht in die von Tolstois Anna Karenina, wenn sie das Männlein und sein Gerät sieht, oder in die von Capotes Herb Clutter, wenn er gefesselt im Keller liegt und das Leben aus ihm rinnt, oder in die von Sem-Sandbergs Adam Rzepin, wenn er die Schreie aus den Rattenkäfigen in Łódź hört. Es sind meine Bilder. Ich kann sie in meinem eigenen Dunkel sehen. Im Übrigen wusste ich, dass sie sich irrte. Was immer ich gesehen hatte, es konnte nicht damit abgetan werden, dass es von Anna Karenina stamme.
Lillemor weiß nichts über das Innerste dessen, woher wir kommen. Sie schwatzt drauflos und konstruiert plausible Erklärungen. Zum Plausiblen greift man, weil man es nicht schafft, an die dunklen und komplizierten Ursachenketten zu denken, die hinter jedem Ereignis unseres Lebens stecken, wo wir weder Akteure noch Zuschauer sind, sondern auf der Oberfläche eines starken Stroms zappeln, der uns und die Ereignisse über sein Dunkel dahintreibt.
Vor der Dunkelheit hat sie sich stets gehütet. Eines ist sicher: Sie hat sich nie am Flussufer im bläulichen Lehm gewälzt und ist dabei schwarz geworden. Sie wandte rasch den Kopf ab, wenn Assar Malms Hündin mit hängendem Bauch und zitternden ausgeleierten Zitzen auf den Hinterbeinen ankam. Wie etwas halb Ertränktes, das sich in dem Moment zeigen wollte, als ich in der Küche saß und fror, weil das Feuer im Herd nur schwelte, ohne sich richtig zu erholen, trieb diese Erinnerung an die Oberfläche. Ich sollte öfter hier sein, dachte ich. Allerdings mit Heizstrahlern und gutem Holz.
Es war doch sie, an die ich mich erinnerte. Sie und ihre psychopathische Mutter und irgendeine dämliche Tante und ein Kind, das mit Astrid zweistimmig Veilchen möcht ich pflücken gehn sang. Die sich fast sicher war, dass ihr Lillemormädchen sauer dreinschaute. Sie hatte nie eine sonderlich gute Singstimme gehabt, und man merkte ihr an, dass sie neidisch war. Sie saßen alle vier
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