Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
auf einer Decke, und da waren auch Kaffeetassen, Gläser, eine Gebäckschale, eine Saftflasche mit Bügelverschluss und eine rote Thermoskanne. Ich bin mir sicher, dass sie es war, so sicher, wie man nach all den Jahren nur sein kann, sind wir doch alle schwer austauschbar. Das Gedächtnis platziert uns in Fächer, so wie wir als Mädchen Lesezeichen in einem Schreibheft mit eingebogenen Blättern hatten. Sie verstecken sich, tauchen wieder auf und haben manchmal den Platz gewechselt. Was aber immer bleibt, ist das Bild mit der Thermoskanne und der Gebäckschale und den zwei kleinen Mädchen, deren Badeanzüge mit Reihfaden genäht waren, sodass der Stoff überall Blasen bildete. Ich war böse, weil ich keinen Badeanzug hatte, ihn natürlich vergessen hatte, und meine Mutter sagte: »Na und, geh ruhig ins Wasser, hier sieht dich doch niemand.«
Ich schwamm im Fluss, und er umfing mich wie mit Armen und trug mich (Mutter: »Nicht zu weit raus! Nicht zu weit raus!«), und er trug mich am Birkenwald und an dem Salweidengebüsch vorbei, das diese etepetete Gesellschaft vor uns verbarg, und ich hörte übers Wasser hinweg zweistimmig von der Heide feinen Fransen singen. Ich fand das saublöd.
Als ich ans Ufer stieg, sah ich die drei dämlichen Gänse und Astrid Troj, die immerhin nicht dämlich war. Da schwamm ich gegen die starke Strömung des Flusses bis zu der Stelle mit dem bläulichen Lehm, wälzte mich darin und bemalte mich am ganzen Körper und auch im Gesicht damit. Und als ich schwarz war, schlich ich durch das Weidengebüsch, sodass ich am Rand des Birkenwäldchens herauskam, schnell, schnell, weil man nicht mehr richtig schwarz ist, wenn der Lehm erst trocknet. Dort hüpfte ich dann herum, schrie und schlug mit den Armen und schrie und schrie.
Sie fürchteten sich aber gar nicht so sehr, wie ich gehofft hatte. Sie glotzten nur. Da kam Onkel Assars Hündin an, sie hatte mich wohl gehört. Als sie die Decke mit der Gebäckschale bemerkte, rückte sie schnell näher, und ein Stück davor erhob sie sich auf die Hinterbeine und zockelte so weiter. Dieses Kunststück hatte Assar ihr beigebracht: auf den Hinterbeinen zu laufen. Aber eigentlich schluffte sie vorwärts. Da fingen sie alle zu schreien an. Dolly war dick, und an ihrem Bauch hingen lauter gelbe Zitzen. Sie sabberte vor Gier nach den Zimtschnecken und hechelte mächtig, denn sie hatte eine große, platt gedrückte Schnauze, die ihr das Atmen beschwerlich machte. Ihre Augen waren rot gerändert und trieften, und ihr rechtes Ohr war abgebissen.
Meine Mutter kam angerannt, sie hatte das Geschrei gehört. Sie schubste Dolly und gab ihr einen Klaps aufs Hinterteil, sodass sie zu unserer Decke und Onkel Assar zockelte, dessen Nase die Farbe überreifer Bergjohannisbeeren hatte. Mich packte sie grob am Arm und zog mich ans Wasser.
»Du wäschst dich jetzt«, sagte sie.
Als wir wieder bei unserer Decke waren und ich mich angezogen hatte, fragte sie, warum ich das getan hätte.
»Das war nicht ich. Die haben vor Dolly Angst gekriegt.«
»Ich habe dich gehört«, sagte meine Mutter. »Warum wolltest du sie denn erschrecken?«
»Ach, solche feinen Leute …«
Da lachte meine Mutter kurz und sagte leise:
»Nee nee, die sind nicht fein.«
Ja, es ist
ein Roman. Und auf Lillemor übt er den gleichen Sog aus, wie es Romane zeit ihres Lebens getan haben. Oder auch Erzählungen, was das angeht. Kürzlich hat sie Alice Munro gelesen und verstanden, dass sie in eine geologische Spaltenbildung stürzen würde, wenn sie aus dem Haus ginge; wenn sie aber zu Haus bliebe, riskierte sie, von einem Dreifachmörder umgebracht zu werden, wenn sie zum Arzt ginge, bekäme sie Krebs, und wenn sie noch mal heiratete, einen Rentner, der bei Clas Ohlson einen Kreuzschlitzschraubenzieher in der richtigen Größe sucht, dann würde er sie bald einer jungen Schönheit wegen verlassen, die ihre Sicherungen selbst eindrehen kann. Obwohl die guten Autorinnen und Autoren uns unermüdlich sagen, der Zufall sei mächtiger als der gute Wille und die Welt voller Spaltlöcher, ist es seltsam tröstlich, gute Bücher zu lesen. Sie sind besser als die Wirklichkeit, viel besser, denn sie sind konzentriert und gesteuert . Wir brauchen Stetigkeit und Steuerung. Der Mensch ist zwar ein sinnstiftendes Wesen, doch es ist schwierig, in einem Leben Sinn zu stiften, das ebenso viel Kongruenz und Kontinuität aufweist wie die Werbeplakate, die auf den Rolltreppen der U-Bahnhöfe an einem
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