Schwingen der Lust
so.“
„Engel können keine Menschen töten?“, wiederholte sie, was er gesagt hatte.
„Nein.“
„Das bedeutet, du kannst mir nichts tun?“
„Oh, ich kann dir alles Mögliche antun, Maggie“, knurrte er warnend. „Nur töten kann ich dich nicht.“ Dann entspannte sein Gesicht sich wieder. „Aber ich will dir auch nichts tun. Ich brauche dich, damit du die Prophezeiung erfüllst und die alte Ordnung wiederherstellst.“
„Und was genau müsste ich dafür tun?“
„Das, Maggie, erfährst du noch früh genug.“
Und damit sprang er von der Glocke herab auf sie zu. Maggie erschrak im Schatten seiner riesigen Schwingen und hörte gerade noch den ersten Schlag der Glocke.
Dann wurde alles schwarz.
Ani’El und ihre fünf Brüder und Schwestern standen zwi schen zwei der schmiedestählernen Adler hoch oben auf dem Chrysler Building und schauten auf das in der Mittagssonne gleißende Manhattan mit seinen unzähligen Wolkenkrat zern herab.
„Sie haben die Stadt verlassen“, stellte Ani’El grimmig fest. „So, wie es scheint, schon vor mehreren Stunden. Wir müssen so schnell es geht herausfinden, wohin sie geflüchtet sind. “
„Hast du schon versucht, Kontakt zu T’Azar aufzunehmen?“, fragte einer ihrer Brüder. Er war noch um einiges größer und stärker gebaut als T’Azar. Seine Augen hatten die Farbe von Eisen. „Es sieht ganz danach aus, als sei er ih nen dicht auf den Fersen. “
„Schon mehrfach, Suri’El“, antwortete Ani’El. „Doch ohne jeden Erfolg. Er ignoriert mich einfach. “
„Aber wir dürfen nicht ignorieren, was er angerichtet hat“, sagte eine ihrer Schwestern. Sie war klein und zart. Ihre Haut hatte die Farbe von Alabaster, und ihr glattes, schwar zes Haar glänzte im Schein der Sonne wie flüssiges Pech. Ihre Pupillen waren so hell, dass sie beinahe weiß wirkten, und das Tageslicht schien ihr schwer zu schaffen zu machen. Sie blinzelte unentwegt. Ganz offenbar fühlte sie sich in ihrem halbmenschlichen Körper nicht besonders wohl.
„Das werden wir nicht, Ragu’El“, erwiderte Ani’El so zuversichtlich wie wütend. „Ganz gewiss nicht. Doch zu al lererst müssen wir ihn finden. Ehe er sie findet. “
„Was sollen wir tun?“
„Fliegt in alle vier Himmelsrichtungen“, befahl sie den anderen vier. „Ich bleibe in New York, für den Fall, dass sie hierher zurückkehren.“ Zu Suri’El, dem, der zuerst gespro chen hatte, sagte sie: „Du begibst dich zum Siegel, aber halte dich auf jeden Fall im Verborgenen. Keiner von uns unter nimmt mehr etwas im Alleingang. Wer immer ihn oder die beiden anderen sichtet, ruft zunächst die anderen. “
Die fünf verneigten sich und erhoben sich auf ihren strahlenden Schwingen in den vor Hitze flirrenden Himmel.
Ani’El schaute nach unten in die Straßen, die vor Men schen nur so wimmelten. Von hier oben waren sie noch klei ner als Ameisen.
Und ebenso ahnungslos.
15. KAPITEL
Das Siegel
Der Duft nach Wüstensand ...
... drang in Maggies Bewusstsein, und das Erste, woran sie dachte, während sie langsam wieder zu sich kam, war Axel. Wo mochte er jetzt wohl sein? Wie ging es ihm ... und wie lange würde er brauchen, bis er sich von seinen Verletzungen erholt haben würde? Maggie wunderte sich, wieso sie sich all das fragte - wieso es sie überhaupt, und dann auch noch so dringend, bewegte. Falls Tazz die Wahrheit gesagt hatte, bestand Axels einziges wirkliches Interesse an ihr lediglich darin, sie von der Wiederherstellung des Paradieses abzuhalten.
Falls Tazz die Wahrheit gesagt hatte ...
Trotz all der seltsamen Ereignisse und Vorkommnisse der vergangenen Tage und Nächte fiel es Maggie schwer zu glauben, dass der Garten Eden auf die Erde zurückgebracht werden konnte, und dass ausgerechnet sie es sein sollte, die dazu auserkoren war.
„Wach auf, Menschlein“, hörte sie Tazz’ Stimme durch die Dämmerung. „Wir sind da.“
Sie schlug die Augen auf - und machte sie sofort wieder zu. Es war hell. Verdammt hell. Noch sehr viel heller, als es in Mexiko City im Glockenturm der Kathedrale gewesen war.
„Wo sind wir?“, wollte sie wissen.
„In Karnak“, antwortete Tazz. „Die Festung des Wassers.“
Deswegen war es so außerordentlich hell, und deswegen duftete es auch nach Wüstensand.
Langsam öffnete Maggie ihre Lider wieder, um ihre Augen an die gleißende Sonne zu gewöhnen. Um sie herum ragten massive, baumhohe Sandsteinsäulen voller Hieroglyphen in den hellblauen Himmel. Die Sonne stand
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