Schwingen der Nacht
Harris hatte immer geglaubt, wenn er sich ernsthaft verliebte, würde die Erkenntnis ihn wie ein Schlag in die Magengrube treffen. Er würde nicht darüber nachgrübeln müssen, er würde es einfach wissen. Doch Clair war so anders, dass er sie nicht verstand. Und das bedeutete, dass er sich selbst auch nicht verstand.
Mit wohlüberlegten Worten hoffte Harris, sie von seiner Sichtweise zu überzeugen, ohne zu aufdringlich oder –
Gott bewahre
– verzweifelt zu wirken. “Ich bin gern mit dir zusammen, Clair. Schon bevor die aufreizenden kleinen Spielchen zwischen uns begonnen haben.” Das erinnerte ihn an etwas, und er fragte: “Du wirst dich mir gegenüber doch nicht plötzlich anders verhalten, wenn wir eine Beziehung zueinander aufbauen, oder?”
Clair schien wie versteinert. “Was meinst du damit?”
“Du sagst mir weiterhin, was du denkst und was du fühlst. Und du drehst nicht wegen jeder Kleinigkeit durch. Du bist immer ehrlich zu mir.” Sie hatte die Augen geschlossen, und Harris war sich nicht sicher, ob sie ihm zuhörte. “Clair?”
Sie stand auf und ging auf und ab. “Wir haben schon eine Beziehung, Harris. Wir haben nur noch nicht miteinander geschlafen. Wenn du mich so magst, wie ich gerade bin, wüsste ich nicht, was Sex daran ändern sollte.”
“Sex ändert
einiges.”
Sie drehte sich um und sah ihn an. Misstrauisch zog sie eine Augenbraue hoch. “Wie?”
Wie? Harris schüttelte den Kopf und dachte über seine Worte nach. “Ich sollte besser sagen, dass Sex zwischen
uns
einiges verändern wird. Wenn du jemand anders wärst …”
“Deine geheimnisvolle Verehrerin?”
“Sei nicht so gemein, Clair.” Doch ihm gefiel es, dass sie Eifersucht zeigte. Es reizte ihn, denn er hätte nie gedacht, Clair könnte eine eifersüchtige Frau sein. “Ich will nur sagen, dass es mir bei einer anderen Frau möglicherweise egal wäre. Aber wenn
wir
es tun, erwarte ich ein paar Rechte.”
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. “Was für Rechte?”
Irgendwie geht das in die falsche Richtung, dachte Harris und hätte beinahe über sich selbst gelacht. Hier stand er nun – ein Mann, der Verpflichtungen eigentlich scheute, aber in diesem Moment versuchte, diese Frau festzunageln. Was ihm vor einigen Tagen noch so reizvoll erschienen war und was er als angenehm empfunden hatte, fühlte sich mit einem Mal zu unbestimmt, zu unverbindlich an. Clair setzte ihn nie unter Druck, wollte nie wissen, wo er war oder wann er zurück sein würde oder ob er anrufen würde. Er war Feuerwehrmann, doch soweit er wusste, hatte sie sich noch nie Sorgen um ihn gemacht. Und das war ja auch gut gewesen – bis jetzt.
Wenn er ihr etwas bedeutete, sollte sie dann nicht ab und zu ein bisschen Sorge zeigen? Sollte sie dann nicht wissen wollen, ob er sich mit einer anderen Frau traf? Und ob. Denn wenn sie diese Rücksichtnahme nicht von ihm verlangte, wie sollte er sie dann von ihr verlangen? Und genau das wollte er. Das ganze Gerede über ihren ehemaligen Freund hatte in ihm Eifersucht geweckt. Er wollte nicht, dass sie sich mit jemand anders traf.
Harris löste sich vom Schreibtisch. “Ich möchte nicht, dass du abends ohne mich joggst.” Er fand Gefallen an dem Thema und trat näher zu ihr. “Verdammt, ich will das
jetzt
schon nicht. Wenn ich es nicht schaffe, lässt du das Laufen ausfallen.”
Sie öffnete kurz den Mund, ehe sie ihn nachdrücklich wieder schloss. “Das werde ich nicht tun”, erklärte sie dann bestimmt.
“Clair.” Er verringerte den Abstand zwischen ihnen und zwang sie, einen Schritt zurück zu machen. “Es ist zu gefährlich.”
“Das war dir bisher doch auch egal.”
Bisher war ich ja auch ein Idiot.
“Bisher hatten wir auch eine andere Beziehung zueinander. Jetzt hat sich das geändert.”
“Ha. Was wäre, wenn du deine geheimnisvolle Unbekannte findest? Dann wäre die Sache mit mir wieder auf Eis gelegt. Bis du deine Gefühle für sie geklärt hast, werde ich also genau so weitermachen, wie es mir gefällt.”
Harris hatte sich vor ihr aufgebaut. Der Gedanke daran, dass sie nachts allein war, machte ihn wütend. “Dann muss ich eben dafür sorgen, dass ich jeden Abend mit dir jogge, bis wir alles geklärt haben.”
Sie stieß mit dem Rücken gegen die Wand und blieb stehen. “Das machst du sowieso”, grummelte sie. Und seufzend fügte sie hinzu: “Im Übrigen macht es mir auch gar keinen Spaß, ohne dich zu laufen. Die Chancen stehen also gut, dass ich das Joggen
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