Schwingen des Vergessens
stolperte sie ein paar Schritte rückwärts, fing sich jedoch gleich wieder. Es hatte also geklappt! Freude stieg in ihr auf und ließ sie leise aufjubeln. Erst nach weiteren Atemzügen entdeckte sie die riesigen schwarzen Flügel, die von ihrem Nacken zwei Meter auf die Seite ragten. Mit zusammengekniffenen Augen drehte sie sich ein paar Mal im Kreis, um die Dinger abzuschütteln, doch sie blieben hängen. Fassungslos formte sie mit ihrem Mund ein einziges Wort: Wow! Es war unmöglich. Ihre Lippen versuchten vergeblich, weitere Worte auszusprechen, doch ihr Gehirn kapitulierte völlig. Ließ nichts mehr durch, keine Befehle und gar nichts. Starr stand sie inmitten des hübschen Rasens und versuchte, langsam die Flügel auf und ab zu bewegen. Luftwirbel kamen von ihr aus, schüttelten die umliegenden Pflanzen wie winzige Gräser durch. Wie in Zeitlupe stieg Amelie in die Luft. Unfähig, etwas dagegen zu unternehmen, ließ sie es geschehen und blickte nur ängstlich auf den immer weiter weg rückenden Boden. Selbst machte sie nichts, nur die Flügel bewegten sich stetig auf und ab. Schweißperlen traten auf ihre Stirn, vergeblich versuchte sie, ein einziges Ding an ihr zu steuern, doch nichts gehorchte ihr noch. Panik kam in ihr hoch, denn mittlerweile wäre ein Sturz bereits sehr, sehr schmerzhaft. Ihr Inneres wollte um Hilfe schreien, doch noch immer schaffte sie rein gar nichts, als wäre sie für immer gelähmt. Voller Angst strampelte sie mit den Füßen, als sie bereits auf der Höhe des Daches war und auf den zirka vier Meter entfernte Boden starrte.
„Hilfe!“, schrie Amelie so laut sie konnte, als es endlich wieder funktionierte, doch keiner konnte sie hören. Würde sie jemand sehen, würde er wahrscheinlich nur lachen und kopfschüttelnd weiter gehen, im Glauben, dass er sich das gerade alles nur eingebildet hatte. Verzweifelt warf sie ihren Kopf zurück und blickte auf die Flügel, die sich im steten Tempo auf und ab hoben. Immer weiter und weiter. Ein paar Minuten später konnte sie bereits die umliegenden Häuser von oben sehen, wie kleine Quadrate leuchteten sie dort unten.
„Ich will runter“, brachte sie leise hervor und zuckte zusammen, als die Flügel sich nun anlegten und sie wie ein Pfeil nach unten in die Tiefe schoss. Schreiend lehnte sie sich nach rechts, um zu lenken, doch es half nichts. Der Boden kam näher und näher, kreischend schloss sie die Augen und wartete auf den allesbeendeten Sturz. Millionen Gedanken durchquerten ihren Kopf, Bilder flossen vor ihren geschlossenen Augen hin und her. Also würde Lanicel nicht einmal herkommen müssen, sie würde auch so sterben, ohne sein Zutun. Doch auch nach weiteren schrecklichen Augenblicken schlug sie nicht auf, fühlte bereits wieder das vertraute Schlagen der Flügel, doch so wirklich freuen konnte sie sich darüber leider nicht. Trotzdem total erleichtert ließ das Mädchen seinen Kopf nach unten hängen und sah kraftlos zu, wie alles in die Ferne rückte, um schließlich unter einer dicken, weichen Wolkendecke zu verschwinden. Erschöpft warf sie einen Blick auf den Mond, der wie eine glänzende Scheibe am schwarzen Nachthimmel klebte. Es sah wunderschön aus. Zitternd sah sie zu, wie ihre Flügel weitere Bewegungen ausführten und nun in einem leichten Sinkflug gerade aus zischten. Pustend versuchte sie, die Umgebung beizubehalten, um sich wenigstens nicht zu verirren, doch die Wolken ließen keinen einzigen Blick zu. In einer anderen Situation hätte sie die Eindrücke einfach nur in sich eingezogen, im Flugzeug vielleicht, doch Amelie befand sich leider in der frischen Luft. Der Wind peitschte in ihr Gesicht, eiskalt. Bibbernd sah sie sich um und erkannte in der Ferne einen Vogel, er wirbelte wie ein Tänzer herum und senkte und hob sich wieder. Kurz wünschte das Mädchen sich, selbst zu kontrollieren, wo sie flog, doch in diesem Moment legten sich ihre Flügel automatisch an und sie schoss schreiend in die Tiefe. Plötzlich erkannte sie erste Dächer, weit, weit unten, doch sie schossen blitzschnell auf sie zu. Kurz vor einem Hochhaus bremste sie ab und kam mit den Zehenspitzen auf dem Boden auf. Zitternd begann sie zu laufen. Die Kante kam immer näher, doch der Schwung war zu stark. Sofort stürzte sie auf der anderen Seite wieder zu Boden, doch die Flügel hielten sie wieder in die Lüfte. Beim zweiten Anlauf schaffte sie es und kam kurz vor dem Abgrund zum Stehen. Zitternd sank sie in sich zusammen, ihre ganze Kraft war
Weitere Kostenlose Bücher