Schwur der Sünderin
gleichgültig. »Du kannst hier auf dem Boden vor dem Feuer schlafen. Jörg wird dir eine Unterlage und eine Decke bringen.« Dann ließ sie Anna Maria stehen und stieg mühsam die Stiege hinauf.
Sofort nach dem Frühstück wollte Anna Maria sich wieder auf den Weg machen. Bevor sie losmarschierte, wies ihr der Weinbauer vor der Haustür den Weg und meinte: »Wenn du keine lange Rast einlegst, müsstest du vor Anbruch der Dunkelheit Pforzheim erreichen.«
Anna Maria bedankte sich bei Jörg und seiner Frau und ging frohen Mutes in die Richtung, die er ihr gewiesen hatte.
Auch in der vergangenen Nacht hatte es heftig geschneit, sodass sie teilweise bis zur Hüfte im Schnee versank. »Zum Glück ist die Luft nicht mehr so eisig«, tröstete sie sich, als sie sich aus einer Schneeverwehung kämpfte.
Der hohe Schnee hinderte Anna Maria daran, ihre gewohnte Schrittgeschwindigkeit zu halten. Trotzdem erreichte sie kurz vor Abend die Stadt Pforzheim. Erleichtert suchte sie sich eine Unterkunft und ging sogleich zu Bett.
Als sie am nächsten Morgen Pforzheim verließ, war der Himmel zugezogen. Doch mit jedem Schritt, den sie ging, schien das Wetter besser zu werden. Gegen Mittag strahlte endlich die Sonne auf sie nieder und wärmte ihre durchgefrorenen Glieder.
Anna Maria verweilte einige Augenblicke und besah sich die verschneite Umgebung, die im Sonnenlicht funkelte. Als sie zum Himmel hinaufsah, dachte sie an Veit und flüsterte: »Seine Augen sind so blau wie dieser Himmel.« Schon spürte sie Tränen aufsteigen, die sie sich jedoch nicht erlaubte. »Nach vorne schauen«, wisperte sie, stieß kraftvoll ihren Pilgerstab in die Schneedecke und marschierte weiter.
Zwei Tage später erreichte Anna Maria die Stadt Baden in Baden. Nachdem sie die Nacht zuvor wieder bei einer Bauernfamilie untergekommen war, wollte sie sich in einem der zahlreichen Wirtshäuser der Stadt eine Unterkunft suchen. Doch als sie hörte, welche Preise die Wirte für ein Zimmer verlangten, schimpfte sie: »Das ist Wucher!«
»Warum soll ich weniger verlangen als die anderen in der Stadt?«, fragte ein dickbäuchiger Wirt, der ein leeres Bierfass wegrollte. »Die Preise machen nicht wir, sondern der Kurdirektor, dem wir Kurtaxe bezahlen müssen.«
»Kurdirektor? Kurtaxe?«, wiederholte Anna Maria unwissend.
»Baden besitzt Badehäuser mit heißen Quellen«, erklärte ihr
eine Magd, die Bier ausschenkte. »Deshalb kommen die Menschen aus dem ganzen Land zu uns in die Stadt. Sie baden ihre kranken Knochen in dem warmen Wasser, und dafür muss man zahlen.«
»Ich will nicht baden!«, sagte Anna Maria gereizt.
»Das würde dir aber guttun«, sagte die Magd und rümpfte ihre Nase. Beleidigt verließ Anna Maria das Wirtshaus. Ein warmes Bad würde mir tatsächlich gefallen, dachte sie. Sicher ist die Benutzung der Badeanstalt ebenso teuer wie die Zimmer, spottete sie in Gedanken und überlegte, wo sie schlafen könnte.
Anna Maria stützte sich auf den Pilgerstab. Plötzlich hatte sie einen Einfall. Sie ging zurück in das Wirtshaus und fragte die Magd: »Gibt es ein Kloster in der Stadt?«
Die junge Frau nickte. »Hier gibt es die Abtei Lichtenthal, die von Zisterzienserinnen geführt wird.«
»Wo finde ich diese Abtei?«
»Am Rande der Stadt in dieser Richtung«, sagte die Frau und wies mit dem Daumen über ihre Schulter. Erfreut wandte sich Anna Maria zum Gehen, als die Magd sagte: »Allerdings sind die Nonnen bereits im Frühjahr vor den plündernden Horden geflohen. Zum Glück blieb das Kloster verschont.« Als sie Anna Marias enttäuschten Blick sah, flüsterte sie: »Zwei Schwestern sind dort geblieben, aber kaum jemand weiß davon. Du musst zur hinteren Pforte gehen. Vielleicht gewähren sie dir Einlass.«
Anna Maria dankte der Magd mit einem Lächeln und ging in die ihr gewiesene Richtung.
Als sie an den Klostermauern entlangschlich, fürchtete sie sich. Zwar war der Himmel sternenklar, trotzdem konnte sie kaum etwas sehen. Als sie um die Ecke der Mauer bog, konnte sie ein helles Gewand erkennen.
»Schwester«, rief Anna Maria flüsternd. Die Person hielt kurz inne, verschwand dann aber durch die Pforte hinter der Klostermauer.
»Schwester«, rief Anna Maria nun lauter und klopfte an den kleinen unscheinbaren Eingang. Als sie keine Antwort bekam, sagte sie: »Mein Name lautet Anna Maria. Eine Magd, die in der Schenke ›Zum Auerhahn‹ arbeitet, hat mir verraten, dass Ihr hier seid.«
Krampfhaft lauschte Anna Maria, doch es
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