Schwur der Sünderin
blieb still. Enttäuscht wollte sie sich abwenden, als die Pforte einen Spalt geöffnet wurde.
»Was willst du?«, fragte eine Frauenstimme.
»Ich suche eine Unterkunft.«
»Wir sind keine Herberge«, sagte die Frau barsch. »Geh in die Stadt in eines der Wirtshäuser.«
»Die kann ich mir nicht leisten. Sie verlangen Wucherpreise.«
»Dafür können wir nichts«, antwortete die Frau, als eine leise Stimme neben ihr wisperte: »Schwester Claudia, denkt an die Regel des heiligen Benedikt aus Kapitel 53,1: ›Alle Gäste, die zum Kloster kommen, sollen wie Christus aufgenommen werden …‹«
»Du musst mir die Regel nicht zitieren, Schwester Petra. Ich kenne sie sehr wohl«, sagte die Frau ungehalten. Dann öffnete sie die Pforte so weit, dass Anna Maria hindurchschlüpfen konnte. Kaum stand sie auf Klosterboden, wurde die Tür geschlossen und mit einem großen Eisenschlüssel verriegelt.
Die beiden Nonnen, deren weiße Tracht sich in der Dunkelheit vom Hintergrund abzeichnete, blickten Anna Maria stumm an. Da schwarzes Tuch ihre Köpfe verhüllte, konnte sie die Gesichter der Frauen kaum erkennen.
Beide sprachen kein Wort zu ihr, sondern schritten stumm nebeneinander ins Klostergebäude. Anna Maria folgte ihnen und war froh, hier Einlass gefunden zu haben.
Die Nonnen führten Anna Maria in die Küche, wo es wohlig warm war. Die jüngere wies ihr einen Platz zu und gab ihr warmen
Kräutersud zu trinken. Schon beim ersten Schluck spürte Anna Maria, wie das Getränk sie belebte.
»Ich danke Euch, dass Ihr mich nicht abgewiesen habt«, sagte Anna Maria zwischen zwei Schlucken und fragte unbedarft, während sie sich umblickte: »Warum lebt Ihr allein hier im Kloster?«
»Unsere Regel besagt, dass wir Gäste nicht fortschicken sollen, das heißt aber nicht, dass wir uns mit ihnen unterhalten müssen«, erklärte die ältere Schwester mit einem strengen Seitenblick auf die jüngere. »Wir haben zwar ein Gästehaus im Kloster, aber das ist zurzeit nicht geheizt. Deshalb erlaube ich dir, dass du hier in der Küche nächtigst. Schwester Petra wird dir einen Strohsack und eine Decke bringen und dir etwas zu essen geben. Unser Tag ist geprägt von Arbeit und Beten, und deshalb gehen wir früh schlafen.«
Die Nonne ging zur Tür, wo sie sich umdrehte und sagte: »Schwester Petra, ich erwarte dich zur lectio divina .«
Die jüngere Nonne senkte den Blick und nickte.
Kaum war die ältere Nonne gegangen, fragte Anna Maria: »Was ist lectio divina ?«
»Die Geistliche Lesung«, erklärte Schwester Petra flüsternd und eilte hinaus. Kurze Zeit später kam sie mit einem frisch gefüllten Strohsack und einer Decke zurück. Nachdem sie Anna Maria Brot und Speck sowie einen Krug Milch auf den Tisch gestellt hatte, sagte sie: »Ich wünsche dir eine gute Nacht«, und schritt eilig hinaus.
Anna Maria blickte ihr kopfschüttelnd hinterher. Dann zog sie ihre Kleidung aus und ließ nur das Unterkleid an. Müde setzte sie sich an den Tisch und goss sich einen Becher Milch ein. Gespenstische Stille breitete sich aus.
»Nur gut, dass ich damals nicht ins Kloster eingetreten bin«, murmelte sie und schaute sich in der Küche um. Die Erinnerung
an ihre Begegnung mit den beiden Nonnen Gabriele und Bernadette vor einigen Jahren kam ihr in den Sinn.
Die beiden Klosterschülerinnen waren mit einigen anderen nach Worms unterwegs gewesen und hatten eine Rast eingelegt, um sich die Beine zu vertreten. Dabei waren sie auf Anna Maria gestoßen, die auf einer nahen Wiese ihre Schafe hütete. Die beiden Nonnen waren damals wie Anna Maria vierzehn Jahre alt gewesen, sodass sie sie sofort gemocht hatten. Angeregt hatten sie sich unterhalten, und besonders Bernadette hatte versucht, Anna Maria die Vorzüge des Klosterlebens schmackhaft zu machen.
Doch als Anna Maria ihrem Vater mitteilte, dass sie sich mit dem Gedanken trug, Nonne zu werden, hatte er sich auf Luthers Meinung gestützt. Anna Maria hörte noch die dröhnende Stimme des Vaters in den Ohren: »Selbst Luther hat erkannt, dass die Nonnen in den Klöstern oft unglücklich sind. Das Leben dort ist hart, und wenn du einmal in ein Kloster eingetreten bist, so kannst du es nie mehr verlassen. Warum also solltest du freiwillig in ein Gefängnis gehen wollen?«
Somit untersagte der Vater Anna Maria den Eintritt in ein Kloster, und die beiden Nonnen zogen von dannen. Anna Maria hatte die Begegnung bald vergessen.
Vier Jahre später, als sie mit Veit ihre Brüder suchte, waren sie
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