Schwur der Sünderin
hineinschauen und wurde enttäuscht. Für mich als Kind befand sich nur unnötiges Zeugs darin.« Anna Maria hielt inne und überlegte. Mit einer heftigen Bewegung stellte sie den Becher auf den Tisch und zwinkerte ihrer Schwägerin verschwörerisch zu. Dann gab sie ihr ein Zeichen, ihr zu folgen.
In der Wohnstube, die nur an besonderen Tagen benutzt wurde, öffnete Anna Maria den Schrank mit der Tischwäsche und dem guten Geschirr. Auf einem der Bretter lag die Bibel, deren Ledereinband über die Jahre schwarz und speckig geworden war. Sie zog das Buch heraus und reichte es wortlos ihrer Schwägerin.
»Was suchst du?«, fragte Sarah verwirrt.
Anna Marias Arm verschwand in dem wuchtigen Schrank, und als ihre Hände das Gesuchte ertasteten, lachte sie leise auf. »Ich wusste es!«, triumphierte sie und zog eine Schatulle hervor.
»Was ist darin?«, fragte Sarah aufgeregt.
»Der Schlüssel zur Truhe!«, flüsterte Anna Maria mit leuchtenden Augen.
»Woher wusstest du, dass das Kästchen im Schrank versteckt war?«
»Vater hat es mir vor vielen Jahren verraten, als Peter nach einer Jagd schwer angeschossen darniederlag. Um meinen Bruder zu retten, benötigte er ein Medikament, das er von einer seiner
Wallfahrten mitgebracht hatte. Dieses Gebräu war in einer kleinen Flasche am Boden der Truhe versteckt. Da er auf Peter aufpassen musste, vertraute er mir sein Geheimnis an.«
»Ich verstehe«, flüsterte Sarah nachdenklich. »Warum hast du nicht sofort die Schatulle geholt?«
»Ich habe nicht mehr daran gedacht. Damals musste ich Vater versprechen, den Vorgang zu vergessen.«
Anna Maria versuchte, den Verschluss des Kästchens zur Seite zu schieben, doch er öffnete sich nicht. »Ich Dummkopf«, schimpfte sie. »Vater gab mir damals einen kleinen Schlüssel, mit dem ich die Schatulle aufsperren konnte.«
»Wo ist der?« Sarah wurde ungeduldig.
»Er trug ihn stets bei sich«, stöhnte Anna Maria auf.
Entmutigt setzten sich beide Frauen auf die Bank, die vor dem wuchtigen Ofen stand.
»Wir müssen das Kästchen oder die Truhe aufbrechen«, schlug Sarah nach kurzer Zeit vor.
»Bist du von Sinnen?«, erwiderte Anna Maria entsetzt. »Jakob würde uns eigenhändig erwürgen, wenn wir das täten. Sieh dir die feine Arbeit der Schatulle an. Sie ist sicher wertvoll, und auch die Truhe dürfen wir nicht beschädigen. Stell dir vor, wir zerstören das Schloss und das Kleid befindet sich nicht darin. Wenn Jakob uns nicht umbringt, dann spätestens Vater, wenn er zurückkehrt.« Sie überlegte: »Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass Vater das Schlüsselchen mit auf seine Pilgerreise genommen hat.«
»Dann müssen wir die Schlafstube deiner Eltern auf den Kopf stellen, bis wir den Schlüssel gefunden haben.«
»Nicht mehr heute. Ich bin zum Umfallen müde«, sagte Anna Maria gähnend. Sarah nickte, löschte die Kerzen, und jede ging in ihre Schlafkammer.
Anna Maria spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Kälte kroch durch ihren Körper und ließ sie erschaudern. Die Härchen an ihren Beinen und Armen stellten sich auf, und sie glaubte, dass jemand ihr seinen eisigen Atem ins Gesicht blasen würde.
Der Nachtschreck, fuhr es ihr durch den Kopf, und schon hatte sie das Gefühl, als ob jemand unter ihre Bettdecke krabbelte und sich ihr auf den Brustkorb setzte.
Anna Maria wusste, dass sie träumte. Trotzdem schien es, als ob man ihr die Luft aus der Lunge quetschte.
Vor vielen Jahren hatte Anna Maria zum ersten Mal nachts diesen Druck in der Brust gespürt und sich gefürchtet, dass ein Fremder in ihre Kammer eingedrungen war. Als sie am Morgen nichts Ungewöhnliches fand, hatte sie sich der Magd anvertraut. Lena flüsterte damals mit schreckensbleichem Gesicht, dass ein Nachtschreck Anna Maria heimgesucht habe, und verriet ihr den Spruch der Erzengel, um den Alb zu bezwingen.
»Ich hab dich erkannt, du bist gebannt«, schrie sie auch in dieser Nacht im Traum.
Anna Maria erwachte und schaute sogleich unter ihre Bettdecke. Wie früher konnte sie nichts Ungewöhnliches feststellen. »Ich habe wieder nur geträumt«, stellte sie erleichtert fest. Sie musste an ihre Mutter denken, die in der Nacht starb, in der sie ihrer Tochter im Traum erschienen war, um sich zu verabschieden. Anna Maria erinnerte sich daran, als ob es gestern gewesen wäre. Damals hatte niemand damit gerechnet, dass die Mutter von ihnen gehen würde, da sie gesund zu sein schien. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass Sterbende
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