Schwur der Sünderin
Anna Maria in ihren Träumen aufgesucht hatten. Anna Maria hatte die besondere Gabe, dass Menschen, die ihr nahestanden, sich im Traum von ihr verabschiedeten.
Ihr Bruder Matthias war der Letzte gewesen, der sie am Tag seines Todes in ihren Träumen aufgesucht hatte. Jahre zuvor
war es die Mutter gewesen, die in ihrer Todesnacht der Tochter Lebewohl sagte.
Niemals würde Anna Maria den Schrei des Vaters am nächsten Morgen vergessen, der durch das Haus schallte, als er seine Frau tot neben sich liegen fand. Anna Maria ging zum Vater und flüsterte ihm die Worte zu, die die Mutter ihr im Traum anvertraut hatte: »Gräme dich nicht, mein Lieber. Eines Tages werden wir uns wiedersehen!« Erst da beruhigte er sich und ertrug stumm den Schmerz und sein Schicksal.
»Wie sehr du mir fehlst, Mutter«, flüsterte Anna Maria. »Wie gern würde ich mit dir meine Hochzeit vorbereiten und dir von meinen Ängsten erzählen.«
Anna Maria hielt die Augen geschlossen und wartete, bis der Schmerz der Erinnerung nachließ. Es war noch dunkel, als sie sich gefasst hatte. Sie stand auf, zog sich an und ging nach unten. In der geräumigen Küche waren die Magd und Sarah damit beschäftigt, das Frühstück für das Gesinde und die Bauersleute zuzubereiten.
»Lena«, sagte Anna Maria ernst, »der Nachtschreck war letzte Nacht wieder in meiner Kammer.«
»Jesus und Maria!«, rief die Magd entsetzt. »Hast du den Spruch der Erzengel gesprochen?«
Anna Maria bejahte.
»Ein Nachtschreck?«, fragte Sarah erstaunt.
»Er ist nur eine verirrte Seele«, erklärte Lena leise. »Durch den Spruch der Erzengel hat Anna Maria sie wieder in den Himmel geschickt.«
»Kann solch eine fehlgeleitete Seele zu jedem kommen?«, fragte Sarah verängstigt.
Lena zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Meist suchen sie die Seelen der Kinder auf, da sie reinen Herzens sind. Was der Nachtschreck von Anna Maria will, ist mir ein Rätsel.«
»Ich bin ebenfalls reinen Herzens«, lachte Anna Maria verhalten und holte Tonschüsseln und Holzlöffel für den Morgenbrei. Auch stellte sie Becher, mehrere Krüge mit Milch und verdünntem Bier, Äpfel, Honig, Butter, Käse und Speck auf den Tisch. Zufrieden überblickte sie die reich gedeckte Tafel.
Schon ihre Mutter hatte dafür gesorgt, dass die Knechte und Mägde in den Genuss eines reichhaltigen Frühstücks kamen. »Nur wer anständig isst, kann anständig arbeiten!«, hatte sie stets gesagt, wenn ihr Mann über die Verschwendung schimpfte.
»Anderes Gesinde muss sich mit einer kleinen Schüssel Milch begnügen«, rügte er seine Frau, an der sein Tadel abprallte.
»Nur weil unsere Knechte und Mägde gestärkt an die Arbeit gehen, bist du der größte Bauer in der Umgebung geworden«, hatte sie ihn dann liebevoll geneckt, wohl wissend, dass er darauf nichts erwidern würde.
Bei dem Gedanken an ihre Mutter sagte Anna Maria zu ihrer Schwägerin: »Ich werde nach dem Schlüssel suchen, sobald ich meine Arbeit im Stall verrichtet habe.«
»Du hast einen Schlüssel verloren?«, fragte Lena neugierig. Die beiden Schwägerinnen blickten sich an und glaubten in den Augen der anderen denselben Gedanken lesen zu können. Jeder auf dem Hof wusste, dass Lena seit dem Tod der Bäuerin öfter das Bett des Bauern wärmte. Vielleicht wusste sie, wo sich der Schlüssel der Schatulle befand.
»Ich habe keinen Schlüssel verloren, trotzdem suche ich einen«, lachte Anna Maria, die darüber belustigt schien.
»Wozu passt er?«, fragte Lena weiter.
»Zu einer kleinen Schatulle.«
»Was ist in dem Kästchen?«
»Das geht dich nichts an, Lena, trotzdem werde ich es dir verraten«, antwortete Sarah genervt. »Wie du weißt, wird Anna Maria heiraten, und in der Schatulle befindet sich ein Schmuckstück ihrer Mutter.«
»Wie ergreifend«, sagte Lena ehrlich und dachte nach. »Ich konnte einmal beobachten, wie der Bauer etwas unter seine Truhe schob.«
»Nein«, schüttelte Anna Maria den Kopf. »Ich denke, dass das Schlüsselchen in einem seiner Kleidungsstücke steckt.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte die Magd. »Nachdem der Bauer zur Wallfahrt aufgebrochen war, habe ich seine Kleidung in der Kommode nach Motten durchgesehen und sie in eine Truhe auf dem Dachboden eingeschlossen. Da war kein Schlüssel gewesen.«
»So ein Mist«, murmelte Anna Maria enttäuscht. »Dann werde ich wohl nicht das Brautkleid meiner Mutter tragen.«
»Was hat das Brautkleid mit dem Schlüssel zu tun?«, wollte Lena
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