Science Fiction Almanach 1982
auch nur in einem guten Muster besitzen, daß wir genügend mannigfaltiges Bildmaterial von ihm haben – und Aufzeichnungen seiner Denkweise, seines Stils, seiner Sprechart.
Reporter: Diese Voraussetzungen treffen aber nur selten zu?
Haydin: O nein! Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es sowohl eine Vorform des lebenden Bildes, Film genannt, wie auch eine Reihe von primitiven Tonaufzeichnungen; seit etwa 1930 beides auch schon kombiniert. Fast alle einigermaßen wichtigen Menschen jener Tage sind als Persönlichkeiten dokumentarisch aufbewahrt.
Reporter: Hm … Aber das sind zufällige Beispiele. Sie sprachen vom „Ganzen des Lebens“, von „beliebigen Situationen“, die es wiederherzustellen gelte!
Haydin: Richtig. Damit hatten wir tatsächlich große Schwierigkeiten. Aber es gibt solche Belege ja nicht nur von Staatsmännern, Dichtern, Verbrechern, Schauspielern, Erfindern, Technikern und anderen Berühmtheiten, sondern seit fast anderthalb Jahrhunderten von jeder Art Menschen in allen Teilen der Erde. Dieses Quellenmaterial wurde durchforscht, nach der Typenlehre von Adamson und mit den Methoden der sozialen Charakterologie, wie sie seit Maaß und Peck entwickelt wurde. Es wurden über 5000 Typen mit lebensentsprechender Genauigkeit wiederhergestellt; und das genügt ja vollkommen für alle Zwecke der Praxis, wenn Sie bedenken wollen, daß etwa unser Alphabet mit 25, die chinesische Schreibkunst mit 400 Grundzeichen auskommt.
Reporter (lachend): Aber Herr Haydin! Sie wollen doch nicht das lebendige Abbild des ganzen Menschen gleichsetzen mit toten Zeichen!
Haydin: Warum nicht? Jeder ist nur ein mehr oder weniger zusammengesetztes Zeichen seines Wesens. Ein „Charakter“, wie das treffend auch in der chinesischen Schrift genannt wird. Wenn wenige Buchstaben zur Aufbewahrung der tiefsten Gedanken genügen, dann muß unsere sorgfältige Typenkunde erst recht ausreichen, um das Handeln jeder denkbaren Art von Menschen glaubhaft wiederherzustellen. Die Elemente von Bewegung und Sprache sind immer wieder dieselben. Und damit haben wir es zu tun. Wir müssen uns natürlich losmachen von gewissen gewollten Rednertönen und pathetischen Gebärden, welche die Menschen vor den Aufnahmeapparaten um 1930 und 1940 nur zu gern einnahmen. Und wir haben das getan.
Reporter: Aha. Es handelt sich also nicht um Originaldokumente.
Haydin: Nein. Aber um mehr. Um Aufzeichnungen des Wesentlichen. Sie sind offenbar noch in gewissen überholten Vorstellungen von der Bedeutung der Originalität befangen? Am Ende Leser von Porter und James?
Reporter: Mindestens halte ich, mit diesen Denkern, das Leben für unwiederholbar.
Hayuin: Nun, ich bin kein Philosoph, sondern schlichter Geschichtstechniker, Schüler von Findlay. Erlauben Sie mir zu sagen: Das Leben besteht geradezu aus Wiederholungen! Es vollzieht sich nicht in der Unendlichkeit, sondern es ist sichtbare, fühlbare und erkennbare Wahrscheinlichkeit. Das ahnten gelegentlich schon frühere Betrachter: etwa der sonst wenig beachtete Nietzsche, wenn er von einer „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ spricht.
Aber ich bin abgeschweift. Offenbar habe ich mich an dem vagen und ungenauen Geist jener Epoche angesteckt, an deren Wiederherstellung im lebenden Bilde ich seit Jahren arbeite. Es ist die Zeit vor genau hundert Jahren.
Reporter: Warum haben Sie gerade diese gewählt?
Haydin: Weil gerade die Zeit zwischen den beiden großen Kriegen und besonders der Weltkrieg 1939 bis 1945 und die ihm folgenden Jahre in einer solchen Fülle von Ton- und Bildaufzeichnungen festgehalten sind, daß wir eigentlich erst von da ab ein wirklich ausreichendes Grundmaterial besitzen. Es scheint, daß die Menschen jener Tage besonderen Wert darauf legten, gerade ihre Verirrungen unvergeßlich zu machen … Aber das wird Ihnen Professor Vlacek besser erläutern. Dort kommt er eben!
(Händeklatschen, das rasch abebbt.)
Reporter (halblaut): Eben betritt Professor Karel Vlacek, der Rektor der all-europäischen Unesco-Universität, das Podium. Dort sehen Sie ihn. Er beginnt!
(Vlacek zunächst im Rednerton; später wird er zum plaudernden Erklärer.)
Prof. Vlacek: Verehrte Anwesende und Miterlebende! Heute vor genau hundert Jahren begann die Konferenz von Moskau. Zahlreiche Beratungen waren vorhergegangen. Die Verträge mit den Verbündeten Deutschlands waren soeben unterzeichnet. Nun wollten die Siegermächte beschließen, in
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