Science Fiction Almanach 1983
natürlich erst später begriffen. Irgendwann dazwischen hatte ich den Unfall. Genauer gesagt, er-leb-te ich den Unfall.“
Tyra griff unwillkürlich nach Tessas Hand, die sich kalt anfühlte. Weshalb sprach sie von einem ‚erlebten’ Unfall? „Auf der Insel hier gibt es keine Autos, nur Elektrotransporter und Bagger. Ist es mit einem Luftkissenboot passiert? Oder mit einem Rotor-Taxi?“
„Einzelheiten wurden mir nie mitgeteilt. Man berief sich auf die drohende Gefahr eines erneuten Schocks. Jedenfalls kam ich erst in der Klinik wieder zu mir.“
„Wo? Auf dem Festland?“
„Frag nicht.“
„Vertraust du mir nicht?“
„Ich verschweige es zu deinem Schutz, Tyra. Du ahnst nicht, was hier auf Forsetisland gespielt wird. Wenn ich alle Beweise habe, werde ich euch die Augen öffnen. Ich brauche dich, Tyra! Willst du mir helfen, auch wenn es gefährlich werden könnte?“
Tyra fühlte sich von der dunkelgrünen Augenklappe irritiert und bemühte sich, dem flehenden Blick der Linksäugigen standzuhalten. Dann nickte sie. „Ich will alles für dich tun.“
„Wie viele Mädchen leben gegenwärtig in den Wohnspiralen?“
„Einhundertundzwanzig.“
„O du großer Forsetis!“ stöhnte Tessa.
„Ich glaube, da kommt wer!“
„Vielleicht Jill?“
Die Freundinnen standen auf.
Fehlalarm.
Tessa zog Tyra in die Hohlkehle zurück, die sie vor neugierigen Blicken verbarg.
„Likendeeler war ein gutes Codewort“, meinte Tyra lächelnd. „Die Gleichteiler, die den Armen gaben, was sie den Reichen genommen hatten.“
„So klingt es romantisch geschönt“, antwortete Tessa. „Aber die Wahrheit ist bloß grausam, genau wie unsere Wahrheit.“
Tyra lehnte sich wieder gegen den Fels. „Ich verstehe dich nicht.“
„Ihr begreift alle nicht, was euch blüht. Ihr werdet auch solche Gleich-Teiler werden. Ihr alle vom gleichen Impf stamm! Alle einhundertundzwanzig fröhlichen, ahnungslosen Deerns, die sich einbilden, zu etwas Besonderem auserwählt zu sein.“ Um ihre Erregung zu bändigen, ging Tessa in kleinen Schritten vor Tyra auf und ab. „Fortsetisland ist nicht nur die größte Hummerfarm Europas, es ist auch die modernste Farm zur Aufzucht von Körper-Ersatzteilen, von Serientypen! Und wir alle mit den Zwischennamen, die auf A enden – du, Tyra, Laserma, Muja, Vanda, Dewa, Kija, Susa und wie sie alle heißen –, sind als Anonymspenderinnen klassifiziert.“
„Wovon phantasierst du eigentlich?“ Tyra spürte eine leichte Übelkeit aufsteigen.
Tessa stellte sich breitbeinig vor Tyra auf. „Wir sind die Transplantinnen für die oberen Zehntausend, die es sich leisten können. Mit den Gesetzen für die Organentnahme von Toten – mit all den Widerspruchs- und Zustimmungsklauseln – wurde im letzten Jahrzehnt eine Menge Schindluder getrieben. Organe von Leichen sind und bleiben eklig. Ihre Wiederverwendung widerstrebt der deutschen neohumanen Tradition. Unsere Nieren wählt man sich, wie man sich eine Forelle aus dem Sprudelbecken eines Feinschmeckerrestaurants keschert.“
„Du bist verrückt, verrückt, verrückt“, stammelte Tyra. Sie wollte fortlaufen, aber sie brachte es nicht fertig.
„Es gibt perfekte Leichtdialysegeräte, ich weiß. Aber Kranke wollen nicht dauernd an ihre Leiden erinnert werden. Mit einer lebensfrischen, immungezüchteten Austausch-Niere ins dritte Jahrtausend, da sieht man gleich ganz anders aus!“
„Dein Unfall, Tessa, hat vielleicht …“
„Ach, du glaubst, daß ich mir das alles nur einbilde? Laß es mich beweisen. Lade die Mädchen unserer alten Wohnspirale unter irgendeinem Vorwand um 15 Uhr 30 in die alte Hummerhöhle am Nordhorn ein.“
Tyra drängte
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