Science Fiction Anthologie Band 4 - Die Vierziger Jahre 2
Trümmer einer zerstörten Stadt starren müssen? Als er aber bis zehn gekommen war, zwang er sich, aufzuschauen. Ein Seufzer der Erleichterung drang aus seiner Brust. Die sonnenbeleuchteten Vorhänge und der sonnendurchstrahlte Dunst draußen vor den Fenstern waren noch immer vorhanden.
Er begann seine Stimme zu prüfen, griff nach den Vorhängen, spürte deutlich das rauhe Tuch sowie den seidenen Faden des Saumes. Die Vorhänge waren also ebenso greifbar wie sichtbar. Dann bemerkte er, daß der Rücken seiner Hand narbenlos war. Eigentlich hätte dort eine Narbe sein müssen, ein Andenken an einen Streit, in den er als angehender Reporter einmal verwickelt worden war. Er untersuchte beide Hände sehr sorgfältig. Einen Augenblick später hatte er sich in seinem Bett aufgesetzt, die Decke zurückgeworfen und seinen Schlafanzug teilweise ausgezogen. Sehr genau betrachtete er so viel von seinem Körper, wie er sehen konnte.
Es war der glatte Körper eines Jungen.
Aber das war natürlich lächerlich. Er war ein dreiundvierzigjähriger Mann, Offizier, Chemiker und früher einmal ein bekannter Romanschriftsteller. Er war verheiratet gewesen und seit zehn Jahren geschieden. Wieder betrachtete er seinen Körper, der nicht älter war als zwölf Jahre. Im höchsten Falle vielleicht vierzehn. Seine erstaunten Blicke wanderten durch den Raum. Jede Einzelheit war ihm vertraut: die geblümten Stuhlüberzüge; der Tisch, der als Pult diente und gleichzeitig zum Abstellen für all seine Reichtümer; die Kommode mit ihrem Spiegel, an dem Bilder von Flugzeugen steckten. Dies war das Schlafzimmer seiner Jugend. Er schwang die Beine über den Rand des Bettes. Sie waren fünfzehn Zentimeter zu kurz, um den Boden zu berühren. Einen Augenblick schien sich der Raum zu drehen. Panik hatte ihn gepackt. Das ganze Vertrauen in das richtige Arbeiten seiner Sinne war ihm verlorengegangen. War er wahnsinnig geworden? Oder lag er im Delirium? Oder hatte die Bombe ihn wirklich getötet, und das, was er nun erlebte, war nichts anderes als Totsein? Wie war das nur, jener Satz: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“? Er begann zu lachen, und seine jugendliche Kehle gab kichernde Laute von sich. Auch diese erschienen ihm komisch, und sie steigerten noch das Groteske der Situation. Für eine Weile befand er sich am Rande eines hysterischen Anfalls. Schließlich gelang es ihm, sein Lachen zu beherrschen, und er wurde ruhiger. War er tot, mußte er doch wohl ein körperloses Wesen und damit in der Lage sein, durch Materie hindurchzugehen. Zu seiner großen Erleichterung gelang es ihm nicht, seine Hand durch das Bett hindurchzustoßen. Somit lebte er also. Auch war er vollkommen wach und – so hoffte er wenigstens – im vollen Besitz seiner fünf Sinne. Er erhob sich und strich durch den Raum, während er eine Art von Bestandsaufnahme machte.
Er konnte keinen Kalender finden. Auch keine Zeitung oder Zeitschrift. Sicher lag das Datum vor dem 18. Juli 1946. An diesem Tage, seinem vierzehnten Geburtstag, hatte ihm sein Vater ein leichtes zweiundzwanziger Gewehr geschenkt. Es hatte an ein paar rostigen Haken an der Wand gehangen. Nun war es nicht da, noch jemals dagewesen. Auf dem Tisch fand er ein Jungenbuch über Militärflugzeuge mit sauberem neuem Umschlag. Es trug auf der ersten Seite die Inschrift: „Für Allan Hartley zu seinem dreizehnten Geburtstag, am 18. Juli 1945 von seinem Vater.“ Er warf einen Blick aus dem Fenster. Dem Laub der Bäume nach schätzte er das Datum auf Ende Juli oder Anfang August 1945. Somit würde er also gerade dreizehn Jahre alt sein.
Seine Kleider lagen auf einem Stuhl neben seinem Bett. Er zog den Schlafanzug aus und ein Paar Unterhosen an, ließ sich dann nieder und nahm ein Paar zitronenfarbene Socken in die Hand, die er mit Mißfallen betrachtete. Als er gerade einen davon anstreifte, begann eine Kirchenglocke zu läuten. Sankt Bonifatius droben auf dem Hügel rief die Gläubigen zur Frühmesse. Es war also Sonntag. Den zweiten Socken in der Hand, saß er regungslos da.
Es war außer Frage, daß seine gegenwärtige Umgebung wirklich war. Andererseits aber besaß er einen vollständig geschlossenen Kreis von Erinnerungen, die im völligen Widerspruch zu dieser Gegenwart standen. Angenommen nun, dieser Erinnerungskreis war eine Illusion, nachdem doch seine gegenwärtige Umgebung den Tatsachen entsprach … angenommen, diese schrecklichen Erinnerungen waren nichts als ein böser Traum. Natürlich! Er war einfach
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