Science Fiction Jahrbuch 1983
Personen den Eintritt. Er musterte Jerry eindringlich, aber als Kris ihm zulächelte, ließ er sie ein.
Jerry führte sie zu einem kleinen Tisch in der Nähe des Fensters, bestellte zwei Krüge dunkles Bier und zwei Krabbencocktails und öffnete sein Notizbuch.
„Es hat sie wirklich gegeben“, sagte er in aufgeregtem Flüsterton.
„Wen?“ fragte Kris. „Nein, warten Sie. Ich glaube, ich weiß es. Die Nadelmänner.“
Jerry nickte. „Ich habe die ganze Zeit gearbeitet, viele alte Bücher über das Leben und die Bräuche in New Orleans gelesen und mir Mikrofilme der alten Zeitungen angeschaut. Die Existenz dieser Nadelmänner wurde nie nachgewiesen, aber es gibt Geschichten über sie. Über Jahrzehnte hinweg, von der Jahrhundertwende oder früher bis in die zwanziger Jahre. Es war ein speziell schwarzer Aberglaube. Falls es überhaupt ein Aberglaube war. Sie stellten Schwarzen nach, verstehen Sie, weil sie alle so arm waren, denn niemanden kümmerte es groß, ob einige von ihnen verschwanden oder nicht. Die Polizei lachte natürlich nur über diese Nadelmännergeschichten, aber die Schwarzen gaben die Warnungen von Mund zu Mund weiter. Es war genauso, wie Gumbo Granny gesagt hat. Angeblich waren es Medizinstudenten. Sie trugen diese langen Nadeln, die mit Gift, einem Betäubungsmittel oder ähnlichem versehen waren, und schlichen in Alleen und Parks herum. Bereits ein Kratzer mit einer dieser Nadeln soll genügt haben. Das Opfer wurde innerhalb von Sekunden bewußtlos, und andere Nadelmänner kamen und karrten das Opfer in ein Hospital, eine Medizinschule oder irgendwohin ab, wo Leichen zu Demonstrations- oder Sezierungszwecken gebraucht wurden. Später wollten dann viele Schwarze nicht mehr ins Kino gehen, weil die Nadelmänner auch gerne in den Filmtheatern operierten. Sie kamen und setzten sich hinter ihre Opfer, verstehen Sie, und stießen ihre Nadeln durch die Sitzlehnen. Dann wurden die Bewußtlosen abtransportiert, als seien sie betrunken oder krank, und danach sah man sie nie wieder. Leichen wurden natürlich nie gefunden.“
Kris suchte sich eine kleine Krabbe mit ihrem Sticker, tauchte sie in die Cocktailsauce und knabberte genüßlich an diesem kleinen, rosigen Stück Fleisch. Ihr Haar fiel in einer herrlichen, honigfarbenen Kaskade über die Schultern und wurde von den Lampen über der Bar indirekt beleuchtet. Aber ihre grünen Augen sahen ihn skeptisch an, und für einen Moment dachte Jerry, nun sei er mit seinem Gerede über die Nadelmänner bei ihr unten durch. Sie würde ihn auslachen oder als Verrückten abtun oder … Er war nicht sicher.
Statt dessen schluckte sie die Krabbe hinunter, nippte an ihrem Bier und sagte: „Ja, das ist eine interessante Geschichte. Sehr farbig. Sie könnten unter Umständen einen Aufreißer daraus machen.“
„Genau das werde ich auch tun!“ sagte Jerry.
„Sie müßten ihn aber schon als historisches Feature für ein Magazin in New Orleans aufziehen“, sagte sie. „Wissen Sie, obskure alte Boogiemänner und so.“
„Nein, nein“, beharrte Jerry. „Sie haben mich nicht richtig verstanden. Das ist nur der Hintergrund. Ich bringe das alles, aber auf die heutige Zeit bezogen. Hier und jetzt. In Chicago.“
Kris aß noch eine Krabbe und lächelte. „Diese Art Geschichte können Sie aber nur dem Enquirer verkaufen und sonst keinem. Glauben Sie nicht, daß Sie sich ein bißchen lächerlich machen?“
„Nein“, erwiderte Jerry steif.
„Sie glauben wirklich, daß diese Nadelmänner existieren? Nicht nur im New Orleans der Jahrhundertwende, sondern hier und jetzt, in Chicago? Ist es das, was Sie meinen? Und sie sollen Chollie Monroe geholt haben und
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