Scream
wahrscheinlich irgendwo in Marblehead. Haben deine Leute auch da schon nach ihm gesucht?«
»Der Typ geht dir richtig auf die Eier, was? Beruhige dich, AI. Das Problem Fletcher ist so gut wie gelöst.«
»Victor, hör mir zu. Er ist –«
»Lehn dich zurück und genieß die Sonne«, entgegnete Dragos und legte auf.
Für eine Weile war Alan Lynch außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Er stierte den Autos nach, die dicht an dicht auf die Einfahrt vom Sumner Tunnel zusteuerten, bis er plötzlich aus unerfindlichen Gründen das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Er schaute sich nach allen Seiten um, sah aber nichts als die Menge aus Angestellten, die Mittagspause machten, Teenagern und Schulkindern.
Alan stieg in die klimatisierte Limousine. Auf dem Rücksitz lag ein grünes Buch. Er krauste die Stirn. Am Morgen hatte dieses Buch da noch nicht gelegen, und Kennys Interesse an Lektüre beschränkte sich auf die Ausgaben von Penthouse.
Die Goldbuchstaben entlang des Buchrückens waren zum Teil abgeblättert, aber noch leserlich: Le Morte d’Arthur. Der Tod von König Artus. Mit Sicherheit kein Lesestoff für Kenny.
Alan öffnete den Deckel. Auf dem vergilbten Deckblatt stand eine Widmung in gestochen scharfer Handschrift:
So wie Ergebenheit vonnöten war, zu tun,
was einer Menschenseele möglich ist,
bedarf es nicht geringer Tapferkeit,
wenn ich, da du mich ganz verloren gibst,
einen Teil von dir begrabe.
Ich habe dich im Auge, Alan.
Malcolm Fletcher
XLVII
Victor Dragos warf sein Handy aufs Bett und trat vor das Lasermikrophon, das – montiert auf ein Stativ – in der Mitte des Raums stand. Der Laser war auf ein Fenster im zweiten Stock des Washborne Inn gerichtet – Malcolm Fletchers Suite.
Er setzte den Kopfhörer auf, schaltete das Gerät ein und scannte die Glasscheibe. Zu hören waren nur der Wind, der am Fenster vorbeistrich, fernes Meeresrauschen und Möwengeschrei.
Als Casey gestern Nachmittag das Haus seiner Freundin verlassen hatte, waren ihm zwei Männer zum Washborne Inn gefolgt, wo er über eine Stunde zugebracht hatte, bevor er mit einem unbekannten Mann in Schwarz nach Newton gefahren war. Die von seinen Beschattern gemachten Fotos waren am Vormittag entwickelt und abgeliefert worden, zehn Minuten nachdem Alan Lynch aufgebrochen war, um sich mit Mike Abrams zu treffen.
Alles Weitere hatte sich denkbar einfach arrangieren lassen. Das Haus auf der anderen Straßenseite gehörte Laura Brentwood, einer fast blinden Witwe mit vielen Katzen. Als Dragos bei ihr geklingelt hatte, musste sie eine Lupe zu Hilfe nehmen, um seinen FBI-Ausweis lesen zu können. Von dessen Gültigkeit überzeugt, hatte sie sich äußerst entgegenkommend gezeigt und ihm sogar ein spätes Frühstück aus Rührei und Schinken, Orangensaft und Kaffee serviert.
Dragos nahm das großformatige Foto zur Hand und musterte Fletchers Gesicht, das nicht besonders bemerkenswert war – bis auf die Augen. So was gibt’s doch gar nicht, dachte er. Pupillen ohne Iris, schwarz und ohne Licht. Beängstigend, selbst für AI, der von Berufs wegen Monster jagte.
Darum hat er mir am Telefon nichts über Fletchers Aufenthaltsort gesagt.
Alan Lynch war ein Bürohengst, dessen Hauptfunktion darin bestand, die Erfolge seines Profilerteams an die große Glocke zu hängen, um in Washington Geld lockerzumachen. Menschen wie er verstanden nichts von taktischen Finessen. Ein erfolgreich geführter chirurgischer Eingriff erforderte Geduld und Geschicklichkeit – Qualitäten, an denen es Männern wie Lynch mangelte.
Dragos legte das Foto auf den Tisch und wählte die Nummer vom Washborne Inn. Der Besitzer antwortete nach dem zweiten Rufzeichen.
»Mr. Jacobs, hier ist Agent Dragos. Soviel ich weiß, sind Sie bereits unterrichtet worden.«
»Ja, Sir. Zwei Kollegen von Ihnen waren heute Vormittag bei mir. Ich habe ihrem Wunsch entsprochen und das Haus nicht verlassen. Mr. Fletcher ist immer noch nicht zurück.«
»Ich brauche einen Schlüssel zu seinem Zimmer.«
»Kein Problem. Wenn Sie noch etwas anderes benötigen, lassen Sie es mich wissen.« Jacobs senkte seine Stimme. »Sir, wie ich schon den beiden Kollegen heute Morgen sagte, ich bin gern bereit zu helfen, wirklich, aber es wäre mir nicht recht, wenn einer meiner Gäste belästigt würde. Marblehead ist ein kleiner Ort und seine Bewohner entsprechend kleinkariert, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Wir gehen äußerst diskret vor, Mr. Jacobs. Machen Sie sich
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