Scream
ausgegrenzt wurden. Weil privat geführt, herrschten am Graves Center größere Freiheiten als in öffentlichen Einrichtungen dieser Art, und man kaprizierte sich auf unkonventionelle Therapiemethoden. Unser Freund Gabriel war dort Patient – von Dr. Roth. Sind Sie schon einmal dabei gewesen, wenn ein Zehnjähriger, ans Bett gefesselt, mit Elektroschocks behandelt wird? Oder eine Spritze bekommt mit einer hohen Dosis Lithiumkarbonat?«
»Haben Sie so etwas gesehen?«
»Genau das und Ähnliches. Graves war im Grunde ein Labor, in dem neue Psychopharmaka an Probanden mit spezifischen psychischen Störungen getestet wurden. Dabei kam es häufig zu Fehlverordnungen oder überdosierten Gaben mit unschönen Nebenfolgen. In einer Versuchsreihe wurde Jungen zwischen zehn und achtzehn Jahren ein Antidepressivum gespritzt, das sich noch in der Entwicklung befand. Das Medikament verursachte innere Blutungen. Sechzehn Patienten starben, über zwei Dutzend litten anschließend an neurologischen Störungen, die nicht mehr zu heilen waren. Doch der Skandal konnte vertuscht werden. Das Pharmaunternehmen bastelte eine Weile an seinem Medikament herum und nahm sechs Monate später die Tests wieder auf.«
Jack war fassungslos. »Das ist … das ist –«
»Unglaublich? Lächerlich? Ende der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts konnte der Psychiater Auguste Forel die Schweizer Behörden von der Notwendigkeit eines Gesetzes zur Zwangssterilisation überzeugen. Über sechzigtausend Frauen wurden sterilisiert. Hitler nahm sich ein Vorbild daran. Wir wissen, was daraus wurde. Oder erinnern Sie sich an die Tuskegee-Studie zur Langzeituntersuchung der Folgen unbehandelter Syphilis. Daran krepierten Hunderte armer Afroamerikaner. Wollen Sie mehr? Die britische Regierung schickte Waisenkinder nach Australien, wo sie in katholischen Klöstern unterkamen. Man wollte für sie nicht länger Geld ausgeben, und die Australier hatten ein Interesse daran, die weiße Bevölkerung wachsen zu lassen. Ein hübsches Tauschgeschäft, nicht wahr? Jahrzehnte der Sklaverei, Gewalt und des sexuellen Missbrauchs. All das ist Teil unserer Evolution, Teil des göttlichen Plans.«
»Was hatten Sie und Ihre Kollegen mit Graves zu tun?«
»Mehrere Vorstandsmitglieder – Politiker und Wissenschaftler, die wussten, wie man Forschungsbeihilfen in Millionenhöhe abgreifen konnte – unterstützten damals die Anstrengungen des FBI, eine Abteilung mit Fallanalytikern einzurichten. Fachärzte, die an diesem Programm mitwirkten, identifizierten unter ihren Patienten potenzielle Schwerverbrecher und schickten sie durch verschiedene psychiatrische Abteilungen. Zugegeben, die Mehrzahl der Jungen kam in den Genuss schulischer Ausbildung und intensiver Therapie. Tatsächlich hatten sie es besser als je zuvor in ihrem Leben. Die schwierigeren Fälle wie Gabby kamen nach Graves und wurden dort aggressiveren Resozialisierungsmaßnahmen unterzogen – möglich gemacht durch Steuergelder.«
Jack brauchte eine Weile, um all das zu verdauen.
»Sind Sie etwa schockiert?«, fragte Fletcher. »Dass diese Profilereinheit (Verhaltensforschung) genannt wurde, war beileibe kein Missgriff oder gar Zufall. Der Name beschreibt genau das Interessengebiet der Initiatoren. Die Arbeit der Profiler war zweitrangig.«
»Sie haben mir noch nicht Ihre Funktion in diesem Zusammenhang erklärt.«
»Ich hatte keine Funktion und bin rein zufällig in die Sache hineingeraten. Unser gemeinsamer Freund und ehemaliger Vorgesetzter Alan Lynch war manchmal sehr fahrlässig, was seine Telefonate und Notizen anging. Ich beschloss, auf eigene Faust zu ermitteln, gab mich als Psychiater und Mitarbeiter an Alans löblichem Programm aus und traf auf unseren Freund Gabriel. Er hatte eine Krankenschwester überwältigt, ans Bett gefesselt und so auf sich aufmerksam gemacht. Als man die Tür aufbrach, hockte er rittlings auf ihr und würgte sie mit beiden Händen. Eine andere Krankenschwester entdeckte eine Bombe mit Fernsteuerung im Ventilationsschacht seines Zimmers, ein recht ausgeklügeltes Ding, bedenkt man, dass Gabby zu diesem Zeitpunkt erst dreizehn Jahre alt war. Offenbar war der Junge nicht zufrieden mit seiner Rolle als Versuchskaninchen.« Fletcher nippte an seinem Wein. »Vielleicht ist er auch erst nach der Schocktherapie von Dr. Roth so richtig ausgerastet.«
»Sie haben ihn also kennengelernt.«
»O ja. Wir, Gabby und ich, sind uns sehr nahe gekommen. Während unserer therapeutischen
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