Scriptum
verkündete er düster.
Tess spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. «Was steht drin?» Sie wusste, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde.
KAPITEL 61
Östliches Mittelmeer, Mai 1291
«Lasst das Beiboot zu Wasser!»
Trotz des Infernos, das um ihn herum tobte, hallte der Ruf des Kapitäns laut in Aimards Kopf wider. Erneut prallte eine Wasserwand
gegen die Galeere. Er stürzte aufs Vordeck und dachte nur noch an das Reliquiar.
Ich muss es retten.
Wieder fiel ihm die erste Nacht ihrer Reise ein, als er und Hugues leise aufs Vordeck gegangen waren, nachdem die Mannschaft
und die anderen Brüder eingeschlafen waren. Er hielt die Schatulle, die Guillaume de Beaujeu ihm anvertraut hatte, fest an
die Brust gedrückt. Die Tempelritter hatten überall Feinde, und nach der Niederlage von Akkon waren sie angreifbar geworden.
Da er und Beaujeu dem Kapitän blind vertrauten, hatte Aimard Hugues kurz nach ihrem Aufbruch von seinen Sorgen berichtet.
Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass ihm der Kapitän eine so vollkommene Lösung liefern würde.
Als sie den Bug des Schiffes erreichten, hatte Hugues mit einer Fackel eine tiefe Höhlung im Hinterkopf der Galionsfigur beleuchtet,
die nur unwesentlich größer als die Schatullewar. Er kletterte hinauf und setzte sich rittlings auf den Falken. Aimard warf einen letzten Blick auf die verzierte Schatulle,
bevor er sie dem Kapitän reichte, der sie behutsam in die Höhlung senkte. Neben ihnen brannte ein Kohlenbecken unter einem
kleinen Bottich, der geschmolzenes Harz enthielt. Seine Oberfläche wogte sanft im Rhythmus der stärker werdenden Wellen, auf
denen die
Faucon du Temple
dahinglitt. Als die Schatulle sicher in dem Versteck ruhte, schöpfte Aimard mit einer Metallkelle Harz aus dem Bottich und
reichte sie an Hugues weiter, der es in die Spalten zwischen Schatulle und Holz goss. Dann kippte er einen Eimer Wasser über
das heiße Harz. Eine zischende Dampfwolke stieg empor. Er nickte Aimard zu, der ihm ein massives Stück Holz reichte, das die
Höhlung verschloss und sich nahtlos in die Galionsfigur fügte. Er hämmerte daumendicke Holzzapfen hinein und verschloss alles
noch einmal mit Harz, das erneut mit Wasser gehärtet wurde. Aimard sah zu, wie Hugues von der Galionsfigur auf das Deck sprang.
Niemand hatte sie beobachtet. Er dachte an Martin de Carmaux, der unter ihnen schlief. Sein Protegé brauchte nicht zu erfahren,
was er getan hatte. Wenn sie den Hafen erreichten, würde es womöglich notwendig sein, doch bis dahin würden nur er selbst
und Hugues das Versteck des Reliquiars kennen. Und für den Inhalt der Schatulle war der junge Martin ohnehin noch nicht so
weit.
Ein zuckender Blitz rief Aimard in die düstere Gegenwart zurück. Er kämpfte sich durch den peitschenden Regen und war kurz
vor dem Vordeck, als ein weiterer Wellenberg die
Faucon du Temple
traf, ihn mit brutaler Gewalt von den Füßen riss und gegen den Kartentisch schleuderte, dessen Ecke sich schmerzhaft in seinen
Körper bohrte. Martin lief rasch herbei,half Aimard gegen dessen Willen auf und schleppte ihn hinüber zum wartenden Beiboot.
Aimard fiel ins Boot und richtete sich auf, wobei er einen brennenden Schmerz in der Seite verspürte. Er sah, wie Hugues über
die Reling zu ihnen herunterkletterte, in der Hand ein seltsames kreisförmiges Gerät, das er beim Navigieren zu benutzen pflegte
und nun in Position brachte. Der Ritter hieb wütend mit der Faust auf die Reling und sah hilflos mit an, wie die Galionsfigur
kurz stolz der wütenden See trotzte, bis sie wie ein Zweig abbrach und im schäumenden Wasser verschwand.
KAPITEL 62
Die Spannung löste sich. Tess schaute Vance ungläubig an. «Und das soll es gewesen sein? Die ganze Mühe, und jetzt liegt das
Geheimnis irgendwo am Meeresboden?»
Wut stieg in ihr hoch. Nicht schon wieder. Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. «Wozu die ganze Geheimnistuerei?», platzte
es aus ihr heraus. «Wozu der verschlüsselte Brief? Warum haben sie den Pariser Brüdern nicht einfach mitgeteilt, dass es unwiederbringlich
verloren war?»
«Um die Täuschung aufrechtzuerhalten», mutmaßte Vance. «Solange es in Reichweite war, blieb ihre Sache lebendig. Und die Templer
waren in Sicherheit.»
«Bis die Täuschung aufflog …?»
Der Professor nickte. «Genau. Denken Sie daran, dieses Etwas, was immer es sein mag, ist für die Templer von allergrößter
Bedeutung. Aimard dürfte das
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