Scriptum
auf dem Weg ins Koptische Museum in Kairo verloren. Allerdings überlebten zweiundfünfzig
Texte, die von Bibelforschern nach wie vor kontrovers diskutiert werden. Diese Schriften, die man zusammenfassend als gnostische
Evangelien bezeichnet, verweisen nämlich auf Aussprüche und Glaubensgrundsätze Jesu, die denen des Neuen Testaments widersprechen.»
«Gnostisch», warf Reilly ein. «Wie die Katharer?»
Vance lächelte. «Genau. Unter den Texten, die in Nag Hammadi gefunden wurden, war auch das Thomasevangelium, das sich selbst
als geheimes Evangelium bezeichnet und mit dem Vers beginnt: ‹Dies sind die geheimen Worte, die der lebendige Jesus sprach
und die der Zwilling Judas Thomas niederschrieb.› Der
Zwilling
. Im selben Band findet sich das Philippusevangelium, das Jesus und Maria Magdalena ganz offen als Liebespaar beschreibt.
Maria hat übrigens ihren eigenen Text – das Evangelium nach Maria Magdalena, das bereits 1896 entdeckt wurde und in dem sie
als Jüngerin und Führerin einer christlichen Gruppe beschrieben wird. Dann wäre da noch das Petrusevangelium, das Ägypterevangelium,
das Apokryphon des Johannes und das Evangelium der Wahrheit mit seinem deutlich buddhistischen Unterton. Die Liste lässt sich
beliebig fortsetzen.
Diese Evangelien gleichen sich nicht nur darin, dass sie Jesus Worte und Taten zuschreiben, die sich grundlegend von denen
der vier anderen Evangelien unterscheiden, sondern auch darin, dass sie christliche Glaubensgrundsätze wie die jungfräuliche
Geburt und die Auferstehung als naive Wahnideen abtun. Schlimmer noch, diese Schriften sind durch die Bank gnostischer Natur,
da sie sich zwar auf Jesus und seine Jünger beziehen, aber die Botschaft vermitteln, sich selbst zu kennen bedeute letztlich,
Gott zu kennen. Dass man Gott finden könne, indem man in sich selbst nach den Quellen von Freude, Kummer, Liebe und Hass sucht.»
Vance erklärte, dass die frühchristliche Bewegung unterdrückt worden sei und einer theologischen Struktur bedurft habe, wenn
sie überleben und wachsen wollte. «Das Überangebot an einander widersprechenden Evangelien drohte dieBewegung zu spalten, was fatal gewesen wäre. Man brauchte eine geistliche Führung, was jedoch unmöglich war, solange jede
Gemeinde ihre eigenen Glaubensgrundsätze und ihr eigenes Evangelium besaß. Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts nahm die Machtstruktur
allmählich Gestalt an. In mehreren Gemeinden tauchte eine dreistufige Hierarchie aus Bischöfen, Priestern und Diakonen auf,
die behauptete, für die Mehrheit zu sprechen, und sich als Wächter des einen wahren Glaubens bezeichnete. Ich will damit nicht
sagen, diese Menschen seien zwangsläufig machtbesessene Ungeheuer gewesen», verkündete Vance. «Sie waren sogar sehr tapfer
und fürchteten aufrichtig, dass ihre Bewegung ohne anerkannte strenge Regeln und Rituale zerfallen und verschwinden würde.»
Er erklärte, dass das Überleben der Kirche in einer Zeit, da Christsein Verfolgung und Tod bedeuten konnte, von der Einführung
einer festen Ordnung abhing. Diese Ordnung entwickelte sich, bis man im Jahre 180 unter Leitung von Bischof Irenäus von Lyon
schließlich eine einzige und einheitliche Sicht der Ereignisse erzwang. Es konnte nur eine einzige Kirche mit einem festen
Bestand an Glaubenssätzen und Ritualen geben. Alle anderen Ansichten wurden als häretisch abgelehnt. Die Doktrin war ziemlich
nüchtern: Es gab keine Erlösung außerhalb der wahren Kirche; ihre Mitglieder sollten
orthodox
sein, was so viel wie «rechtgläubig» bedeutete; und die Kirche sollte
katholisch,
also «allgemein», sein. Folglich musste die lokale Evangelienproduktion gestoppt werden. Irenäus beschloss, es solle vier
wahre Evangelien geben, was er mit dem etwas sonderbaren Hinweis auf die vier Ecken des Universums und die vier Windrichtungen
untermauerte. Er verfasste ein fünfbändiges Werk mit dem Titel
Entlarvung und
Widerlegung der fälschlich so genannten Erkenntnis,
in dem er die meisten bestehenden Werke als blasphemisch abtat und sich auf die vier Evangelien festlegte, die wir heute als
definitives Wort Gottes kennen – unfehlbar und ausreichend für die Bedürfnisse der Glaubensanhänger.
«Keines der gnostischen Evangelien verfügt über eine Passionsgeschichte», fuhr Vance fort. «Die vier Texte, die Irenäus auswählte,
hingegen schon. Sie berichteten vom Tod Jesu am Kreuz und seiner Auferstehung und verbanden die
Weitere Kostenlose Bücher