Scriptum
klaffte ein riesiges Loch in seinem Hinterkopf.
Diese Stunden der Schlaflosigkeit jedenfalls waren für ihn immer eine scheußliche Tortur. Er war zu müde, um aufzustehen und
die Zeit zu irgendetwas Sinnvollem zu nutzen, aber zu aufgedreht, um wieder einzuschlafen. Also lag er einfach da in der Dunkelheit,
während ihm allerlei beklemmende Gedanken durch den Kopf spukten. Und wartete. Gegen sechs stellte sich für gewöhnlich der
erlösende Schlaf ein, was allerdings kein großer Trost war, weil er schon eine Stunde später aufstehen musste.
In dieser Nacht war es ein Anruf aus dem Krankenhaus, der ihn um vier Uhr weckte. Der Mann, den er durch die Straßen von Lower
Manhattan verfolgt hatte, sei gestorben. Der Krankenhausbeamte erwähnte etwas von inneren Blutungen und Herzversagen, von
fehlgeschlagenen Wiederbelebungsversuchen. Die nächsten zwei Stunden über hatte Reilly, seiner Gewohnheit entsprechend, über
den Fall nachgegrübelt, dem jetzt die vielversprechendste und einzige wirkliche Spur abhanden gekommen war – denn dass aus
Lucien Boussard viel Nützliches herauszubekommen war, falls und wenn er überhaupt je wieder würde sprechen können, bezweifelte
er stark. Bald aber schoben sich andere Gedanken in den Vordergrund, die ihn beschäftigten, seit er am Vorabend das Krankenhaus
verlassen hatte. Gedanken, die hauptsächlich um Tess Chaykin kreisten.
Während er am Fenster stand, kam ihm in den Sinn, wieihm im Krankenhauscafé als Erstes aufgefallen war, dass sie keinen Ehering trug, und auch sonst keinen Ring. In seinem Beruf
war es wichtig, auf solche Details zu achten. Jahrelange Routine hatte seine Aufmerksamkeit für solche Kleinigkeiten geschärft.
Aber hier ging es nicht um Berufliches, und Tess war keine Verdächtige.
«Er hieß Gus Waldron.»
Reilly hörte, die Hand um einen Becher Kaffee gelegt, aufmerksam zu, während Aparo mit routiniertem Blick die Kriminalakte
überflog und den versammelten Kollegen eine Kurzfassung lieferte.
«Offenbar ein mustergültiger Bürger, dem so mancher eine Träne nachweinen wird», fuhr Aparo fort. «Von Beruf Boxer, Kreisklasse,
ebenso unbeherrscht im Ring wie außerhalb, in drei Staaten mit Kampfverbot belegt. Vier Vorstrafen wegen Körperverletzung
und bewaffnetem Raub, hier und in New Jersey. Hat einige Male im Rikers-Gefängnis gesessen», er hob kurz den Blick und setzte
mit Nachdruck hinzu: «darunter auch eine Zeit lang auf der Vernon Bain.» Bei der Vernon C. Bain, benannt nach einem allseits beliebten Wärter, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, handelte es sich um einen
schwimmenden Hochsicherheitstrakt für bis zu achthundert Häftlinge. «Zweimal des Totschlags verdächtigt, beide Male wurde
das Opfer zu Tode geprügelt, allerdings kam es nicht zu einer Verurteilung. Zwanghafter Spieler. Sein halbes Leben lang von
einer Pechsträhne verfolgt.» Aparo schaute hoch. «Das war es so ungefähr.»
«Also offenbar einer, der immer in Geldverlegenheiten war», bemerkte Jansson. «Umfeld?»
Aparo blätterte die Seite um und ging die Liste mit Waldrons namentlich bekannten Spießgesellen durch. «Josh Schlattmann,
letztes Jahr verstorben … Reza Fardousi, ein verkommener Fettsack von dreihundert Pfund – fraglich, ob den irgendein Pferd im Land tragen könnte.»
Er überflog rasch die Liste und ließ alle Namen aus, die nicht in Frage kamen. «Lonnie Morris, Schmalspurdrogendealer, derzeit
auf Bewährung, lebt und arbeitet, kein Witz, bei seiner Großmutter, die einen Blumenladen in Queens hat.» Aparo hob wieder
den Blick. Diesmal aber verhieß seine Miene, das sah Reilly sofort, nichts Gutes. «Branko Petrovic», stellte er mit sorgenvoller
Stimme fest. «Ein ehemaliger Polizist. Und jetzt halten Sie sich fest. Er war bei der Reiterstaffel der New Yorker Polizei.»
Er schaute hoch. «Im Ruhestand. Und zwar nicht aus freien Stücken, wenn Sie verstehen, was ich meine.»
Amelia Gaines warf Reilly einen vielsagenden Blick zu und meldete sich dann zu Wort. «Was hat er angestellt?»
«Diebstahl. Hat sich im Revier nach einer Drogenrazzia an den Beweisstücken vergriffen», sagte Aparo. «Gesessen hat er aber
offenbar nicht deswegen. Unehrenhafte Entlassung, Verlust aller Pensionsansprüche.»
Reilly runzelte die Stirn. Das klang nicht gerade verheißungsvoll. «Unterhalten wir uns mal mit ihm. Bringen wir in Erfahrung,
womit er dieser Tage so sein Geld verdient.»
KAPITEL
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