Scriptum
Kopien der Columbia University, der Tess an dem Nachmittag im Büro zugestellt wurde, wirkte enttäuschend
dünn. Eine rasche Sichtung des Materials vertiefte den enttäuschenden ersten Eindruck noch. Tess fand nichts, was irgendwie
brauchbar gewesen wäre, aber nach dem, was Clive Edmondson ihr erzählt hatte, rechnete sie auch gar nicht mit Texten zum Templerorden.
Offiziell hatte William Vance sich einem ganz anderen Fachgebiet verschrieben, hauptsächlich phönizischer Geschichte bis zum
dritten Jahrhundert vor Christus. Einen offenkundigen, vielversprechenden Zusammenhang jedoch gab es: Aus den großen phönizischen
Hafenstädten Sidon und Tyrus sollten tausend Jahre später mächtige Templerbastionen werden. Um an Spuren aus phönizischer
Zeit zu gelangen, musste man dort buchstäblich erst Schichten von Kreuzfahrer- und Templergeschichte abtragen.
Allerdings war auch von den Themen Kryptographie und Kryptologie in den ihr vorliegenden Veröffentlichungen nirgends die Rede.
Sie war maßlos enttäuscht. All ihre Recherchen in der Bibliothek, wo sie eifrig Bücher gewälzt hatte, und jetzt Vance’ Aufsätze
– nichts davon hatte sie der Lösung dieses Rätsels auch nur einen Deut näher gebracht.
Sie beschloss, einen letzten Versuch im Internet zu unternehmen. Der Name William Vance führte in der Suchmaschine zu denselben
aberhundert Treffern wie beim letzten Mal. Diesmal aber würde sie sich Zeit nehmen und das Material sorgfältiger prüfen.
Nachdem sie einige Dutzend Websites durchgegangen war, stieß sie auf einen Artikel, in dem Vance nur am Rande erwähnt wurde,
und zwar mit unverhohlen spöttischem Unterton. Es handelte sich um eine Rede, die ein französischer Historiker knapp zehn
Jahre zuvor an der Université de Nantes gehalten hatte. Gegenstand der Rede war eine vernichtende Abrechnung mit Theorien,
die nach Auffassung des Historikers alles andere als seriös waren und ernsthaften Wissenschaftlern die Arbeit unnötig erschwerten.
Vance wurde im letzten Drittel seiner Ausführungen erwähnt. Der Historiker flocht nebenbei ein, dass ihm sogar die lachhafte,
von Vance vertretene These zu Ohren gekommen sei, Hugues de Payens sei womöglich Katharer gewesen, mit der Begründung, dass
der Stammbaum seiner Familie auf eine Herkunft aus dem Languedoc hindeutete.
Tess überflog den Abschnitt ein zweites Mal. Der Begründer des Templerordens ein
Katharer
? Eine absolut verstiegene Vermutung. Templer und Katharer hätten kaum gegensätzlicher sein können. Die Templer hatten sich
zweihundert Jahre lang als aufrechte Streiter für die Kirche bewährt. Die Katharer dagegen waren eine in gnostischen Vorstellungen
wurzelnde ketzerische Sekte.
Trotzdem eröffnete die Vermutung einige interessante Perspektiven.
Die Bewegung der Katharer, deren Bezeichnung auf das griechische Wort
katharoi
, «die Reinen», zurückgeht, war umdie Mitte des zehnten Jahrhunderts entstanden. Ihr Glaube fußte auf der Überzeugung, dass die Welt böse sei und Seelen zur
ständigen Wiedergeburt verdammt seien – mitunter sogar in Tiergestalt; ein Grund dafür, warum die Katharer kein Fleisch aßen –, bis sie der materiellen Welt entrannen und in einen spirituellen Himmel eingingen.
Sämtliche Glaubensgrundsätze der Katharer standen in krassem Widerspruch zu den Dogmen der Kirche. So vertraten sie eine dualistische
Theologie, der zufolge es neben dem barmherzigen, gütigen Gott noch einen ebenso mächtigen, aber bösen Gott geben müsse, der
für all die Schrecken verantwortlich war, welche die Welt heimsuchten. Der gute Gott war der Schöpfer des Himmels und der
menschlichen Seele; der böse Gott aber hatte diese Seele in den menschlichen Körper eingekerkert. In den Augen des Vatikans
verübten die Katharer damit den Frevel, Satan auf eine Stufe mit Gott zu stellen. Damit war das Konfliktpotenzial noch nicht
erschöpft, denn die Katharer, die alle weltlichen Güter als Teufelswerk ansahen, erteilten auch dem Streben nach Reichtum
und Macht eine scharfe Absage, durch das die römisch-katholische Kirche im Mittelalter zusehends korrumpiert wurde.
Dass sie darüber hinaus Gnostiker waren, musste die Kirche zusätzlich beunruhigen. Gnostizismus, abgeleitet vom griechischen
gnosis
, «höheres Wissen» oder «Einsicht», ist der Glaube, dass der Mensch weder eines Priesters noch der Kirche bedarf, um in direkten,
vertraulichen Kontakt zu Gott zu treten. Der Glaube an den
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