Scriptum
persönlichen Kontakt zu Gott befreite die Katharer von allen moralischen
Geboten und religiösen Pflichten. Womit für sie nicht nur prächtige Kirchen und umständliche Zeremonien überflüssig wurden,
sondernauch Priester. Religiöse Riten wurden einfach in Wohnungen oder auf freiem Feld abgehalten. Und um das Maß voll zu machen,
genossen Frauen bei den Katharern völlige Gleichbehandlung und konnten sogar in den Rang von
Vollkommenen
aufsteigen, die bei den Katharern in etwa priesterliche Funktion hatten: Da der Leib für sie bedeutungslos war, konnte die
in einem menschlichen Körper weilende Seele ebenso gut männlich wie weiblich sein, unabhängig von der äußeren Gestalt.
Der Glaube fand rasch viele Anhänger und verbreitete sich über ganz Südfrankreich bis nach Norditalien, eine Entwicklung,
die den Vatikan zunehmend beunruhigte. Man entschied, dass diese Ketzerei nicht länger geduldet werden dürfe. Nicht nur die
katholische Kirche war in Gefahr. Das gesamte Feudalsystem Europas war in seinen Grundfesten bedroht, denn die Katharer lehnten
jeglichen Eid als sündhaft ab, da er einen an die materielle, mithin böse Welt kettete. Diese Auffassung drohte das auf Treueiden
basierende Verhältnis zwischen Grundherren und Vasallen komplett auszuhebeln. Für den Papst war es ein Leichtes, die Unterstützung
des französischen Adels zu gewinnen, um dieser Bedrohung Herr zu werden. Im Jahr 1209 fiel ein Kreuzfahrerheer über das Languedoc
her, dem in den folgenden dreißig Jahren über dreißigtausend Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fallen sollten. Quellen zufolge
richteten die Ritter in manchen Kirchen, in denen Dorfbewohner Zuflucht gesucht hatten, solche Massaker an, dass sie am Ende
knöcheltief im Blut wateten. Ein päpstlicher Soldat, der einmal klagte, er wisse nicht, ob er Ketzer oder gute Christen umbringe,
erhielt ungerührt zur Antwort: «Töte sie alle; Gott wird die Seinen schon erkennen.»
Das war einfach zu widersinnig. Die Templer machten sich auf ins Heilige Land, um die Pilger zu beschützen – christliche Pilger.
Sie waren die Elitetruppe des Vatikans, seine zuverlässigste Stütze. Die Katharer dagegen waren Feinde der Kirche.
Tess war ziemlich verwundert. Dass ein gebildeter Wissenschaftler wie Vance sich zu einer so verrückten Theorie versteigen
konnte, gestützt auf nichts Handfesteres als die Herkunft eines einzigen Menschen! War er wirklich der richtige Ansprechpartner?
Akademischer Fauxpas hin oder her, eines stand für Tess trotzdem fest: Sie musste unbedingt mit Vance reden. Falls es einen
Zusammenhang zwischen den Templern und dem Raubüberfall gab, könnte er ihn vermutlich sofort aufzeigen.
Sie rief ein weiteres Mal die Columbia University an und ließ sich mit der historischen Fakultät verbinden. Tess nahm Bezug
auf ihr letztes Telefonat und fragte die Sekretärin, ob sie jemanden an der Fakultät aufgetrieben hätte, der etwas über William
Vance wusste. Die Frau erklärte, sie hätte mehrere Professoren angesprochen, die zur selben Zeit wie Vance an der Uni tätig
waren, aber ohne Erfolg. Bei allen war der Kontakt zu ihm nach seinem Weggang abgerissen.
«Verstehe.» Tess seufzte leise. Sie sah ihre letzte Hoffnung schwinden.
Der Frau war ihre Enttäuschung offenbar nicht entgangen. «Ich weiß, Sie müssen ihn erreichen, aber vielleicht möchte er nicht
erreicht werden. Manchmal wollen Menschen lieber nicht an, na ja … schmerzliche Zeiten erinnert werden.»
Tess war auf der Stelle hellwach. «Schmerzliche Zeiten?»
«Ja, natürlich. Und nach allem, was er durchgemachthat … das war wirklich sehr traurig. Er hat sie sehr geliebt, wissen Sie.»
Tess dachte fieberhaft nach. Hatte sie irgendetwas überhört? «Entschuldigung, ich kann Ihnen, glaube ich, nicht ganz folgen.
Hat Professor Vance einen persönlichen Verlust erlitten?»
«Ach, ich dachte, das wüssten Sie. Ja, seine Frau. Sie ist schwer erkrankt und dann verstorben.»
Das war Tess absolut neu. Im Internet war das mit keiner Silbe erwähnt worden, aber die Texte dort waren auch rein akademischer
Natur und enthielten keine privaten Informationen. «Wann war das?»
«Schon vor einiger Zeit, vor fünf oder sechs Jahren? Mal nachdenken … Es war im Frühjahr, das weiß ich noch. Der Professor hat danach ein Forschungssemester eingelegt und ist nicht wieder an
die Uni zurückgekehrt.»
Tess bedankte sich und legte auf. Sie geriet ins Grübeln:
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