Scriptum
Weise zu verunsichern.
«Und wie vereinbaren Sie das mit Ihrem Glauben?»
«Ich glaube an Gott, nicht an die Menschen.»
«Kommen Sie schon, so einfach kann das doch nicht sein.»
«Doch», entgegnete er mit einer Ruhe, die Tess völlig aus dem Konzept brachte, «so einfach ist es.»
Sie schüttelte den Kopf, und ein kleines, selbstironisches Lächeln erhellte ihr Gesicht. «Wissen Sie, ich bilde mir ja gernetwas auf meine Menschenkenntnis ein, aber Sie habe ich wirklich völlig falsch eingeschätzt. Ich hätte nicht gedacht, dass
Sie … na ja, ein gläubiger Mensch sind. Wurden Sie so erzogen?»
«Nein, meine Eltern waren nicht besonders religiös. Ich bin sozusagen erst später darauf gekommen.»
Tess wartete auf eine ausführlichere Erklärung, doch er schwieg. Plötzlich war ihr das Ganze peinlich. «Hören Sie, es tut
mir Leid, offenbar ist das eine sehr private Angelegenheit, und ich bombardiere Sie hier mit taktlosen Fragen.»
«Kein Problem, wirklich nicht. Es ist nur … nun ja, mein Dad starb, als ich noch ziemlich klein war, und ich hatte danach eine schwere Zeit. Der Priester unserer Gemeinde
war damals als Einziger für mich da. Er hat mir geholfen, all das durchzustehen, und das hat mich wohl irgendwie geprägt.
Das ist eigentlich auch schon alles.»
Er mochte sagen, was er wollte, Tess spürte, dass es ihm unangenehm war, eingehender darüber zu sprechen. Wofür sie durchaus
Verständnis hatte. «Okay.»
«Was ist mit Ihnen? Ich nehme an, Sie wurden nicht besonders religiös erzogen?»
«Nein, eher im Gegenteil. In meinem Elternhaus herrschte eine akademische, archäologische, wissenschaftliche Atmosphäre. Entsprechend
fiel es mir schwer, in meiner Welt die Vorstellung von etwas Göttlichem unterzubringen. Als ich später erfuhr, dass Einstein
auch nicht an so etwas glaubte, sagte ich mir: Was für den schlausten Kerl auf unserem Planeten gut genug ist …»
«Schon in Ordnung», versetzte Reilly trocken. «Ein paar meiner besten Freunde sind Atheisten.»
Sie warf ihm einen raschen Blick zu, stellte fest, dass er grinste, und erwiderte: «Gut zu wissen.» Sie selbst hielt sich
allerdings eher für eine Agnostikerin als für eine Atheistin. «Die meisten Leute, die ich kenne, scheinen damit eine Art moralischer
Leere zu verbinden … wenn nicht gleich den völligen moralischen Bankrott.»
Sie gingen ins Wohnzimmer zurück. Reillys Blick fiel auf den Fernseher, wo gerade
Smallville
lief, die Serie über Supermans leidvolle Teenagerzeit. Reilly starrte einen Moment lang gedankenverloren auf die Mattscheibe,
dann wechselte er unvermittelt das Thema. «Ich muss Sie etwas fragen. Es geht um Vance.»
«Schießen Sie los.»
«Wissen Sie, die ganze Zeit, als Sie darüber gesprochen haben, was ihm widerfahren ist, über Ihre Begegnung auf dem Friedhof,
die Ereignisse in dem Keller … die ganze Zeit über war mir nicht recht klar, wie Sie zu ihm stehen.»
Ihr Gesicht verdüsterte sich. «Als ich ihn damals kennen lernte, war er ein richtig netter Kerl, kein bisschen unnormal. Und
dann diese Sache mit seiner Frau und seinem ungeborenen Kind … Es ist doch wirklich furchtbar, was da geschehen ist.»
Reilly blickte ein wenig unbehaglich drein. «Sie empfinden also Mitgefühl für ihn.»
Tess erinnerte sich, wie ihr selbst das zu ihrer eigenen Verwirrung auch bewusst geworden war. «In gewisser Weise, ja.»
«Selbst nach dem Überfall, der Enthauptung, der Schießerei … nachdem er Kim und Ihre Mutter bedroht hat?»
Tess fühlte sich ertappt. Reilly machte ihr ihre eigenen beängstigenden, widersprüchlichen Gefühle bewusst, die sieselbst nicht recht verstand. «Ich weiß, es muss sich verrückt anhören, aber – irgendwo schon, ja. Wie er geredet hat, wie
seine Stimmung plötzlich umschlug und er sich völlig anders verhielt. Er gehört in Behandlung, nicht hinter Gitter. Dieser
Mann braucht Hilfe.»
«Erst einmal müssen wir ihn fassen. Hören Sie, Tess, eines dürfen Sie unter keinen Umständen vergessen: Ganz gleich, was der
Bursche durchgemacht hat, er ist gefährlich.»
Tess sah wieder vor sich, wie Vance gelassen auf dem Sofa gesessen und mit ihrer Mutter geplaudert hatte. Etwas an ihm, an
ihrer Wahrnehmung von ihm veränderte sich. «Es ist verrückt, aber … Ich weiß nicht recht, ob es nicht nur eine leere Drohung war.»
«Vertrauen Sie mir. Es gibt Dinge, von denen Sie nichts wissen.»
Sie legte fragend den Kopf
Weitere Kostenlose Bücher