Scudders Spiel
er zu Übertreibungen neigte. Endgültigkeit gab es zwischen Menschen kaum jemals. Nichts war vergessen und wenig wurde dazugelernt. Gewisse Augenblicke wurden jedoch geziemend ausgetilgt.
Sie tranken Wein zum Abendessen, einen ausgezeichneten 27er Puilly Fuisse. Das Brathähnchen war köstlich, der Salat ein Traum, und die Pekan-Nußtorte so süß, daß sie geradezu auf der Zunge zerging. Und anschließend saßen sie zu dritt vor dem Fernseher, bis Schlafenszeit war: Berichte vom Huppeltag, gefolgt von einem Huppeltags-Korruptionsdrama aus der Welt der Geschäftsspiele. Und wenn sie auch nicht gerade miteinander sprachen, nun, das war kaum zu erwarten. Nicht so bald, nicht an diesem ersten Abend. Und auch später nicht, es sei denn, er bemühte sich sehr darum.
Am nächsten Morgen erwachte Pete frühzeitig. Ein seltsam milchiges Licht sickerte durch die geschlossenen Vorhänge. Im Haus war es still. Er blieb eine Weile im Prunkbett des alten Schulman liegen und lauschte dem leisen Geräusch der Brandung und machte Pläne. An erster Stelle stand seine Arbeit, um zehn Uhr, und dann wieder um drei. Instruktionen von der Spielzentrale und dann zwei Sitzungen mit Teilnehmern. Die Unterlagen waren in seinem Koffer. Vier Stunden im Höchstfall. Abgesehen davon, gehörte der Tag ihm.
Pläne. Er begriff, daß er keine hatte. Außer daß es Scudder gab. Und seine Mutter. Und Grace. Und Hartford und Gaston und Millie und Armon. Und die Landzunge …
Mit einem Ruck warf er die Decke von sich und stand auf. Er fühlte sich gefangen, hielt Ausschau nach dem Schalter, der die elektrisch betriebenen Vorhänge öffnete. Sie waren zugezogen gewesen, als er am Vorabend heraufgekommen war. Irgendwie war seine Mutter vor ihm oben gewesen – vielleicht als sie zur Schlafenszeit ihre Malzmilch bereitet hatte. Er hatte seit siebzehn Jahren keine mehr getrunken. Nun suchte er nach dem Schalter für die Vorhänge und konnte ihn nicht finden.
Natürlich, Winton Schulman III., der Millionär, mußte ein Zimmermädchen gehabt haben. Keine Servomechanismen für Winston Schulman. Zimmermädchen waren das Zeichen wahren Reichtums. Angesichts dessen waren die kostspieligen Lomparexe wahrscheinlich eine spätere Hinzufügung. Pete ging zum Fenster und zog die Vorhänge selbst zurück. Ah, das einfache Leben!
Der Ausblick, der ihn erwartete, war von erstickender Weiße. Zu seinen Füßen ein paar Meter des Gestrüpp überwachsenen Abhangs, armselig in dem farblosen, perlweißen Licht. Und dann, Weiße. Feuchtigkeit sammelte sich entlang dem unteren Rand der Fensterscheibe. Und die unsichtbar rauschenden Wellen hörten sich an, als ob sie überall wären.
Pete kannte diese Nebel. Manchmal lösten sie sich im Laufe des Vormittags unter der heißen Sonnenstrahlung auf, manchmal nicht. Als Junge hatte er sie aufregend gefunden. Heute vermehrte der Nebel lediglich seine bedrängende, planlose Klaustrophobie.
Eilig kleidete er sich an, schritt durch das stille Haus die Treppe hinunter, um an den Strand zu gehen. All diese leeren Räume schienen unvorbereitet ertappt, erstarrt. Nur in der Küche ein wenig Leben. Seine Mutter. Scudder … Er verließ das Haus durch die Küchentür und über den gepflasterten Hof, schlug den Pfad ein, der über den Felsen dahinführte. Nasses Laubwerk streifte ihn. Das Haus war sofort hinter ihm verschwunden. Er ging in einer abgeschlossenen weißen Hemisphäre der bekannten Welt. Er begann sich besser zu fühlen.
Der Pfad führte abwärts, überquerte auf verwittertem Steg eine kleine Schlucht. Die See kam in Sicht, ein paar Meter, ausgehöhlt aus dem Nebel, ein dunkles Heben und Senken, die dunkle Oberfläche schaumgefleckt. Möwen schwammen stumm, neigten den Kopf auf die Seite, um zu ihm aufzublicken. Endlich endete der Pfad in roh ausgehauenen Stufen, die zum Strand hinabführten.
Er zog Schuhe und Socken aus und stand eine kleine Weile. Seine Füße fühlten die harten Sandriffel. Dann ging er los, trabte über die glatte Sandfläche, von einem weißen Gischtausläufer zum nächsten. Zweckvolle Bewegung. Der Nebel war feucht in seinem Gesicht, beperlte seine Brauen. Seine Füße klopften auf den nassen Sand, seine Hosenbeine zischten bei jedem Schritt. Er lief, ganz in der Bewegung verloren, bis seine enggewordene Stadtlunge ihn nicht weiter tragen konnte. Er war, wo er war. Nirgendwo.
Er machte halt. Seine Welt umschloß jetzt zwei gebleichte Stücke Treibholz, Strandkies, ungezählte Muschelschalen und
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