SdG 04 - Die eisige Zeit
ja. Da ist dieser gehetzte Ausdruck in ihren Augen – er blitzt immer nur kurz auf, aber ich täusche mich nicht. Der Einsatz ist erhöht worden, und ich stecke mitten in einem Spiel, das ich noch nicht einmal kenne. Ich weiß auch nicht, welche Spieler auf der Gegenseite aufgestellt sind.
Er blinzelte plötzlich, stellte fest, dass Lady Missgunst wieder neben ihm ging.
»Hat Tool etwas Falsches gesagt?«, wollte er wissen.
Sie rümpfte voller Abscheu die Nase. »Habt Ihr Euch eigentlich niemals gefragt, worüber die Untoten nachdenken, Toc der Jüngere?«
»Nein. Das heißt, ich kann mich nicht erinnern, über so etwas nachgedacht zu haben, Lady.«
»Früher hatten sie Götter, müsst Ihr wissen.«
Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Ach?«
»Ja. Es waren damals Geister. Erde und Fels und Baum und Tier und Sonne und Sterne und Geweih und Knochen und Blut – «
»Ja, ja, Lady, ich hab’s begriffen.«
»Es ist ziemlich unverschämt, mich auf dies Weise zu unterbrechen, junger Mann – seid Ihr ein typischer Vertreter Eurer Generation? Wenn dem so ist, dann trudelt die Welt tatsächlich auf einer Spirale dem Abgrund entgegen. Geister, hatte ich gesagt. Alle mittlerweile vergangen. Alle nur noch Staub. Die Imass haben ihre eigenen Gottheiten überdauert. Es ist schwierig, sich das vorzustellen, aber sie sind in jeder Hinsicht gottlos, Toc der Jüngere. Ihr Glaube … ist jetzt nur noch Asche. Sagt mir, mein Lieber, könnt Ihr Euch vorstellen, wie es nach Eurem Tod mit Euch weitergeht?«
Er gab ein Brummen von sich. »Ihr meint, wie es sein wird, wenn ich am Tor des Vermummten ankomme? Um ehrlich zu sein, ich vermeide es, darüber nachzudenken, Lady. Wozu auch? Wir sterben, und unsere Seelen schreiten durch das Tor. Ich vermute, der Vermummte oder einer seiner Günstlinge müssen entscheiden, was mit ihnen gemacht wird – wenn überhaupt etwas mit ihnen gemacht wird.«
Ihre Augen blitzten. »Wenn überhaupt, ja.«
Ein kalter Schauer rieselte über Tocs Haut.
»Was würdet Ihr tun«, fragte Lady Missgunst, »wenn Ihr wüsstet, dass der Vermummte überhaupt nichts mit Eurer Seele macht? Dass ihr nichts anderes übrig bleibt, als herumzuwandern, auf ewig verloren, ziellos? Dass sie ohne jede Hoffnung existiert, ohne Träume?«
»Sagt Ihr die Wahrheit, Lady? Wisst Ihr das genau? Oder wollt Ihr mich einfach nur quälen?«
»Natürlich quäle ich Euch nur, mein jugendlicher Liebling. Woher sollte ich auch etwas über die ehrwürdige Sphäre des Vermummten wissen? Aber andererseits – denkt an die physikalischen Manifestationen jenes Gewirrs – die Friedhöfe in Euren Städten, die verlassenen und vergessenen Hügelgräber – das sind nicht gerade Orte, mit denen man festliche Aktivitäten verbindet, oder? Denkt doch einmal an die unzähligen Feiertage und Feiern zu Ehren des Vermummten. Fliegenschwärme, blutüberströmte Akolythen, krächzende Krähen und von der Asche der Feuerbestattungen verschmierte Gesichter – ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich kann in all dem nichts Fröhliches erkennen – Ihr etwa?«
»Könnten wir uns vielleicht über ein anderes Thema unterhalten, Lady Missgunst? Dieses hier hebt meine Stimmung nicht gerade.«
»Ich habe nur über die T’lan Imass nachgedacht.«
Habt Ihr das? Ach ja … richtig. Er seufzte. »Sie führen Krieg gegen die Jaghut, Lady. Das ist ihr Daseinszweck, und er scheint auszureichen, um sie weiterexistieren zu lassen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie keinen großen Bedarf an Geistern oder Göttern oder meinetwegen auch an Glauben haben. Sie existieren, um ihren Krieg zu führen, und so lange noch ein einziger Jaghut auf dieser Welt am Leben ist …«
»Gibt es denn noch welche? Ich meine – welche, die noch am Leben sind?«
»Woher soll ich das wissen? Fragt Tool.«
»Das habe ich getan.«
»Und?«
»Er weiß es nicht.«
Toc geriet ins Stolpern, wurde langsamer, starrte erst sie und dann den T’lan Imass an, der vor ihnen herschritt. »Er weiß es nicht?«
»So ist es, Toc der Jüngere. Nun, was fangt Ihr mit dieser Antwort an?«
Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
»Was ist, wenn der Krieg vorbei ist? Was kommt dann als Nächstes für die T’lan Imass?«
Er dachte einen Augenblick lang nach und sagte dann langsam: »Ein zweites Ritual der Zusammenkunft?«
»Hmm …«
»Ein Ende? Das Ende der T’lan Imass? Beim Atem des Vermummten!«
»Und es wartet noch nicht einmal ein einziger Geist, um all diese müden, diese
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