SdG 04 - Die eisige Zeit
sind wir auch in Wirklichkeit. Die Mhybe zog das Antilopenfell enger um ihre mageren, knochigen Schultern. Ein neues, stattliches Aufgebot von Schmerzen erfüllte an diesem Morgen ihren Körper, ein Beweis dafür, dass das Kind ihr in der vergangenen Nacht noch mehr Kraft entzogen hatte. Die alte Frau sagte sich, dass sie keinen Groll verspürte – solchen Bedürfnissen konnte sich niemand entziehen, und in dem Mädchen war sowieso nur wenig, das natürlich war. Gewaltige, kaltherzige Geister und blinde magische Bannsprüche hatten sich miteinander verschworen, um etwas Neues, Einzigartiges zum Leben zu erwecken.
Und die Zeit wurde knapp, so furchtbar knapp.
Die von einem Netzwerk aus Fältchen umgebenen dunklen Augen der Mhybe glitzerten, als sie dem Kind zuschaute, wie es über die von Wind und Wetter gezeichneten Terrassen hüpfte. Eine Mutter blieb ihren Instinkten immer treu. Es war nicht richtig, sie zu verfluchen, auf die Bande der Liebe einzuschlagen, die überdauerten, selbst wenn sich das Fleisch getrennt hatte. Trotz all der Makel, die in ihr tobten, und trotz all der krankhaften Forderungen, die in ihre Tochter hineingewoben worden waren, konnte – nein, wollte – die Mhybe keine Netze aus Hass spinnen.
Dennoch schwächte das Dahinwelken ihres Körpers die Geschenke des Herzens, an die sie sich so verzweifelt klammerte. Weniger als ein Jahr zuvor war die Mhybe noch eine junge, unverheiratete Frau gewesen.
Sie war stolz gewesen und nicht gewillt, die Halbflechten aus Gras anzunehmen, die unzählige kräftige junge Männer ihres Volkes vor dem Eingang ihres Zeltes abgelegt hatten – sie war noch nicht bereit gewesen, ihre eigenen Flechten zu lösen und sich so in eine Ehe zu binden.
Die Rhivi waren ein beschädigtes Volk – wie konnte man in einer Zeit endloser, verheerender Kriege an einen Ehemann oder eine Familie denken? Sie war nicht so blind wie ihre Stammesschwestern; sie wollte der anscheinend von den Geistern gesegneten Pflicht, Söhne zu gebären, um den Boden vor der Pflugschar des Schnitters zu düngen, nicht so einfach nachkommen. Ihre Mutter hatte aus den Knochen gelesen, war mit der Fähigkeit beschenkt gewesen, den ganzen Schatz der Erinnerungen ihres Volkes zu bewahren – die Erinnerungen eines jeden einzelnen Geschlechts, bis zurück zur Träne des Sterbenden Geistes. Und ihr Vater hatte den Kriegsspeer erhoben, zuerst gegen die Weißgesicht-Barghast, und dann gegen das malazanische Imperium.
Sie vermisste sie beide, vermisste sie sehr, doch sie verstand sehr wohl, wie der Tod ihrer Eltern und ihre eigene Weigerung, die Berührung eines Mannes zu akzeptieren, insgeheim dazu beigetragen hatten, sie in den Augen der Geister zur idealen Wahl werden zu lassen. Ein loses, ungebundenes Gefäß, in das man zwei zerrissene Seelen pflanzen konnte – von denen eine bereits jenseits des Todes war, während die andere durch uralte Zaubereien vor dem Tode bewahrt wurde; zwei Identitäten, die miteinander verflochten waren – ein Gefäß, das dazu benutzt werden würde, das unnatürliche Kind zu nähren, das auf diese Weise geschaffen worden war.
Bei den Rhivi, die mit ihren Herden wanderten und keine Mauern aus Steinen oder Ziegeln errichteten, wurde ein solches Behältnis, das nur zu einem einzigen Zweck geschaffen und nach Gebrauch weggeworfen wurde, Mhybe genannt, und so hatte sie einen neuen Namen für sich gefunden, und jetzt lagen in diesem Namen alle Wahrheiten, die ihr Leben ausmachten.
Ich bin alt, ohne weise zu sein, bin verwelkt, ohne das Geschenk vieler Jahre erhalten zu haben, und doch erwartet man von mir, dass ich dieses Kind leite – diese Kreatur, die mit jedem Jahr, das ich verliere, eines älter wird, deren Entwöhnung meinen Tod bedeuten wird. Schaut sie euch an, wie sie die Spiele spielt, die alle Kinder spielen; sie lächelt, denn sie weiß nicht, welchen Preis ich für ihre Existenz, für ihr Heranwachsen bezahle.
Die Mhybe hörte Schritte hinter sich, und einen Augenblick später trat eine große, schwarzhäutige Frau an ihre Seite. Die schräg stehenden Augen der Angekommenen waren auf das Kind gerichtet, das auf dem Abhang spielte. Der Präriewind wehte ihr einzelne Strähnen ihres langen schwarzen Haars ins Gesicht. Sie trug ein Hemd aus schwarz gefärbtem Rohleder, und darunter schimmerte ein fein gearbeiteter Schuppenpanzer.
»Ziemlich täuschend«, murmelte die Tiste Andii. »Anders kann man sie doch wohl kaum nennen, oder?«
Die Mhybe seufzte und nickte
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