SdG 04 - Die eisige Zeit
an das Entsetzen denken, das diese ehemaligen Invasoren über uns gebracht haben. Dujek Einarm und sein gesamtes Heer sind von der verhassten Imperatrix zu Ausgestoßenen erklärt worden. Ein Feldzug ist zu Ende. Ein neuer beginnt. Ihr Geister hienieden, werden wir es irgendwann einmal erleben, dass diese Kriege endlich aufhören?
Das Kind gesellte sich zu den beiden Frauen. Die Mhybe warf dem Mädchen einen Blick zu, sah in dessen ruhigen unerschütterlichen Augen ein Wissen und eine Weisheit, die sich auf Jahrtausende zu gründen schien – und vielleicht war es tatsächlich so. Hier stehen wir drei, sind für alle deutlich zu erkennen – ein Kind von zehn oder elf Jahren, eine Frau mit einem jungen Gesicht und nichtmenschlichen Augen, und eine gebeugte alte Frau – und das Ganze ist bis in die allerletzte Einzelheit eine Illusion, denn das, was in uns liegt, ist die Umkehrung unserer äußeren Erscheinung. Ich bin das Kind. Die Tiste Andii erinnert sich an Jahrtausende, und das Mädchen … an Hunderttausende von Jahren.
Auch Korlat hatte den Blick zu dem Kind gesenkt. Die Tiste Andii lächelte. »Hat dir das Spielen Spaß gemacht, Silberfuchs?«
»Ein Weilchen schon«, antwortete das Mädchen. Ihre Stimme klang überraschend tief. »Aber dann bin ich traurig geworden.«
Korlat zog die Augenbrauen hoch. »Und warum?«
»Einst hat hier ein geheiligtes Vertrauen geherrscht – zwischen diesen Hügeln und den Geistern der Rhivi. Das ist jetzt zerbrochen. Die Geister sind nichts anderes als Gefäße voller Verlust und Schmerz. Die Hügel heilen nicht.«
Die Mhybe hatte das Gefühl, das Blut in ihren Adern erstarre zu Eis. Das Kind zeigte immer deutlicher eine Empfindsamkeit, die fast schon der der weisesten Schulterfrau aller Stämme gleichkam. Doch diese Empfindsamkeit wurde gleichzeitig von einer gewissen Kühle begleitet, als ob sich hinter jedem mitleidsvollen Wort geheime Absichten verbargen. »Können wir denn nichts tun, Tochter?« Silberfuchs zuckte die Schultern. »Es ist nicht mehr nötig.« Und da haben wir wieder so einen Fall. »Wie meinst du das?« Das Mädchen blickte die Mhybe an; auf ihrem rundlichen Gesicht lag ein Lächeln. »Wenn wir wirklich an der Unterredung teilnehmen wollen, sollten wir uns lieber beeilen, Mutter.«
Der Ort, an dem die Begegnung stattfinden sollte, lag dreißig Schritt jenseits der am weitesten vorgelagerten Vorposten auf einem kleinen Hang. Im Westen waren die neuen Hügelgräber zu sehen, die nach der Einnahme von Fahl errichtet worden waren, um die Toten loszuwerden. Die Mhybe fragte sich, ob die zahllosen Opfer wohl jetzt aus der Ferne die Szene beobachteten, die vor ihr lag. Schließlich werden Geister immer dann geboren, wenn Blut vergossen wird. Und wenn sie nicht günstig gestimmt werden, verwandeln sie sich oft in feindlich gesinnte Kräfte, von Albträumen gequält und voller Boshaftigkeit. Wissen denn nur die Rhivi um diese Dinge?
Von Gegnern im Krieg zu Verbündeten – was werden diese Geister von einer solchen Veränderung halten?
»Sie fühlen sich betrogen«, ließ sich Silberfuchs’ Stimme neben ihr vernehmen. »Ich werde ihnen antworten, Mutter.« Sie streckte einen Arm aus und fasste die Mhybe an der Hand, während sie langsam weitergingen. »Dies ist eine Zeit für Erinnerungen. Uralte Erinnerungen und sehr frische Erinnerungen …«
»Und du, Tochter«, fragte die Mhybe leise, »bist du die Brücke zwischen diesen Erinnerungen?« Ihre Stimme hatte bei diesen Worten einen fiebrigen Beiklang.
»Du bist wirklich weise, Mutter, auch wenn du nicht so recht an dich glaubst. Das Verborgene wird nur langsam enthüllt. Schau dir doch nur diese ehemaligen Feinde an. In deinem Innern kämpfst du mit dir, hebst alle Unterschiede zwischen uns hervor; du klammerst dich an deine Abneigung, an den Hass, den du ihnen entgegenbringst, denn das ist ein Gefühl, das dir vertraut ist. Solcher Hass erwächst aus Erinnerungen. Aber, Mutter, in Erinnerungen ist auch noch eine andere Wahrheit verborgen, eine geheime Wahrheit, und das ist all das, was wir erlebt haben, ja?«
Die Mhybe nickte. »Das sagen uns unsere Ältesten, Tochter«, stimmte sie zu und unterdrückte einen leichten Anflug von Ärger.
»Erfahrungen. Das ist etwas, was wir alle teilen. Wir haben vielleicht auf unterschiedlichen Seiten gestanden, aber dennoch sind sie gleich. Sie sind gleich.«
»Das weiß ich, Silberfuchs. Es ist sinnlos, jemandem Vorwürfe zu machen. Wir werden alle von einem
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