SdG 04 - Die eisige Zeit
emporstarrte, füllten sie sich mit Tränen. »Tue ich das wirklich?«, flüsterte sie. »Ernähre ich mich von dir?«
Die Mhybe schloss die Augen, wünschte sich, sie könnte die Wahrheit vor Silberfuchs verbergen, jetzt und für immer. Stattdessen sagte sie: »Du hattest niemals eine Wahl, Tochter – es ist einfach ein Teil von dem, was du bist, und ich akzeptiere es« – und tobe doch innerlich angesichts der widerwärtigen Grausamkeit, die darin liegt – »genau wie du es akzeptieren musst. In dir ist eine Art von Dringlichkeit, Silberfuchs, eine uralte, unleugbare Kraft – du weißt es ebenso gut wie ich, kannst es spüren – «
»Uralt und unleugbar?«, sagte Kallor krächzend. »Du weißt noch nicht einmal die Hälfte, Weib.« Er machte einen Satz über den Tisch, packte Silberfuchs an der Tunika und zog sie dicht zu sich heran. Ihre Gesichter waren nur noch wenige Zoll voneinander entfernt, und der Hochkönig fletschte die Zähne. »Du bist da drin, stimmt’s? Ich weiß es. Ich kann es spüren. Komm raus, elende Hexe – «
»Lass sie los«, befahl Bruth. Seine Stimme war tief und leise.
Das höhnische Grinsen des Hochkönigs wurde breiter. Er löste seinen Griff von der Tunika des Mädchen und lehnte sich zurück.
Mit klopfendem Herzen hob die Mhybe eine zitternde Hand und strich sich übers Gesicht. Das Entsetzen war durch sie hindurchgefahren, als Kallor ihre Tochter gepackt hatte, eine eisige Flut, die ihre Glieder schwach und kraftlos gemacht und mit Leichtigkeit ihren mütterlichen Instinkt, ihr Kind zu verteidigen, überwältigt hatte –, und die ihr selbst und allen anderen, die sich im Zelt befanden, gezeigt hatte, wie feige sie war. Sie spürte, wie ihr Tränen der Scham in die Augen stiegen und ihre runzligen Wangen hinunter rannen.
»Wenn du sie noch einmal anrührst«, fuhr der Kriegsherr fort, »prügele ich dich bewusstlos, Kallor.«
»Wie es dir beliebt«, erwiderte der uralte Krieger.
Elsters Rüstung knirschte, als er sich zu Caladan Bruth umwandte. Das Gesicht des Kommandanten war dunkel, seine Miene hart. »Wenn Ihr es nicht getan hättet, Kriegsherr, hätte ich eine eigene Drohung ausgesprochen.« Er musterte den Hochkönig mit hartem Blick. »Einem Kind etwas antun? Ich würde Euch nicht bewusstlos prügeln, Kallor, ich würde Euch das Herz aus dem Leib reißen.«
Der Hochkönig grinste. »In der Tat. Ich erzittere bereits vor Furcht.«
»Das reicht«, murmelte Elster. Seine behandschuhte Linke wischte in einem Rückhandschlag herum, traf Kallor mitten ins Gesicht. Blut spritzte über den Tisch, während der Kopf des Hochkönigs nach hinten gerissen wurde. Die Kraft, die in dem Schlag gelegen hatte, brachte ihn ins Wanken. Plötzlich hatte er das Heft seines Bastardschwerts in den Händen, das Schwert zischte aus der Scheide – und verharrte, halb gezogen.
Kallor konnte seine Arme nicht mehr bewegen, denn Caladan Bruth hatte seine Handgelenke gepackt. Der Hochkönig strengte sich an, die Adern an seinem Hals und den Schläfen traten hervor, doch er erreichte nichts. Bruth musste mit seinen großen Händen noch fester zugedrückt haben, denn der Hochkönig keuchte, das Heft des Schwertes rutschte ihm aus den Fingern, und die Waffe glitt zurück in die Scheide. Bruth trat näher an ihn heran, aber die Mhybe hörte seine leisen Worte dennoch. »Akzeptiere das, was du verdient hast, Kallor. Ich habe genug davon, wie du dich bei diesem Treffen aufführst. Wenn du meine Geduld noch weiter strapazierst, macht dein Gesicht mit meinem Hammer Bekanntschaft. Hast du verstanden?«
Nach einem langen Augenblick brummte der Hochkönig zustimmend.
Bruth ließ ihn los.
Wieder wurde es still in dem Zelt. Niemand rührte sich, alle Blicke waren auf Kallors blutendes Gesicht gerichtet.
Dujek zog ein Tuch aus seinem Gürtel – es war mit getrocknetem Rasierschaum verkrustet – und warf es dem Hochkönig zu. »Behaltet es«, sagte er mit grollender Stimme.
Die Mhybe trat hinter die kreidebleiche Silberfuchs, die mit weit aufgerissenen Augen auf die Szenerie starrte, und legte ihrer Tochter die Hände auf die Schultern. »Hört auf«, flüsterte sie. »Bitte.«
Elster blickte wieder Bruth an und ignorierte Kallor, als existiere der Hochkönig nicht mehr. »Erklärt uns bitte, Kriegsherr«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Was im Namen des Vermummten ist dieses Kind?«
Silberfuchs schüttelte die Hände ihrer Mutter ab. Sie stand da, als wollte sie gleich davonrennen. Dann schüttelte
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