SdG 05 - Der Tag des Sehers
Moranth-Offizier.
»Die Tiste Edur entstammen dem Älteren Schatten«, bemerkte der Schnelle Ben.
»In den Meeren schwimmen Schatten. Kurald Emurlahn. Das Gewirr der Tiste Edur, der Ältere Schatten, ist zerbrochen und für die Sterblichen verloren.«
»Verloren?« Der Schnelle Ben zog die Augenbrauen hoch. »Niemals gefunden worden, meint Ihr wohl. Meanas – wo Schattenthron und Cotillion und die Hunde sich aufhalten – «
»Ist nichts weiter als ein Torweg«, vollendete der Moranth-Offizier den Satz.
Paran gab ein Brummen von sich. »Wenn ein Schatten einen Schatten werfen könnte, dann wäre dieser Schatten Meanas – ist es das, was Ihr beide sagen wollt? Schattenthron herrscht über das Wachhaus?«
Der Schnelle Ben grinste. »Was für ein köstliches Bild, Hauptmann.«
»Ein beunruhigendes«, murmelte dieser zur Antwort. Die Hunde des Schattens – sie sind die Wächter des Tores. Verdammt, das ergibt zu viel Sinn, um ein Irrtum zu sein. Aber das Gewirr ist auch zerschmettert. Was bedeutet, dass das Tor nirgendwo mehr hinführt. Oder vielleicht gehört es zum größten Bruchstück. Kennt Schattenthron die Wahrheit? Dass sein mächtiger Thron des Schattens ein …, ein … – ja, was denn nun?- ist. Der Stuhl eines Kastellan? Der Posten eines Torwächters? Gute Güte, wie Kruppe sagen würde.
»Ach«, seufzte der Schnelle Ben, und sein Grinsen verblasste, »ich glaube, ich verstehe, was Ihr meint. Die Tiste Edur sind nach dem, was wir hier gesehen haben, wieder aktiv. Sie kehren in die Welt der Sterblichen zurück – vielleicht haben sie den wahren Thron des Schattens wiedererweckt, und vielleicht sind sie im Begriff, ihrem neuen Torwächter einen Besuch abzustatten.«
»Noch ein Krieg im Pantheon – die Ketten des Verkrüppelten Gottes rasseln zweifellos von seinem Gelächter.« Paran rieb sich das stoppelige Kinn. »Entschuldigt mich – ich muss einen Moment allein sein. Macht hier weiter, wenn Ihr wollt – es wird nicht lange dauern.« Hoffe ich.
Er ging zwanzig Schritte vom Ufer weg und blieb stehen, das Gesicht nach Nordwesten gewandt, den Blick auf die fernen Sterne gerichtet. In Ordnung, ich habe das schon einmal gemacht, mal sehen, ob es auch ein zweites Mal klappt …
Der Übergang war so rasch, so mühelos, dass er taumelte, in wirbelnder, stauberfüllter Dunkelheit über unebene Steinplatten stolperte. Fluchend richtete er sich auf. Die eingravierten Bilder unter seinen Füßen schimmerten schwach, kühl und auf unbestimmte Weise vage.
Also, ich bin hier. So einfach. Und wie finde ich jetzt das Bild, das ich suche? Raest? Hast du gerade zu tun? Was für eine Frage. Wenn du beschäftigt wärst, hätten wir alle Probleme, stimmt’s? Mach dir nichts draus. Bleib, wo du bist, wo immer das auch sein mag. Das hier muss ich schließlich selbst enträtseln.
Nicht in den Drachenkarten – ich will schließlich nicht den Torweg, oder? Also müssen es die älteren Karten sein – die Karten der Festen.
Die Fliese direkt vor ihm veränderte sich zu einem neuen Bild, eines, das er noch nie gesehen hatte, jedoch instinktiv als das erkannte, das er gesucht hatte. Die eingemeißelten Linien waren rau, abgenutzt, die tiefen Furchen bildeten ein chaotisches Netz aus Schatten.
Paran spürte, wie er vorwärts gezogen wurde, hinunter, in die Szene hinein …
Er tauchte in einem breiten, niedrigen Raum auf. Schmucklose, behauene Steine bildeten die Wände, wasserfleckig und von Flechten, Schimmel und Moos überzogen. Hoch zu seiner Rechten und Linken waren breite Fenster – waagrechte Schlitze –, beide völlig von Kletterpflanzen und Weinreben überwuchert, die sich ins Innere des Raums bis hinab auf den Fußboden und durch einen Teppich aus abgestorbenem Laub schlängelten.
Die Luft roch nach Meer, und irgendwo außerhalb des Raums kreischten Seemöwen über einer tosenden Brandung.
Parans Herz hämmerte laut in seiner Brust. Das hatte er nicht erwartet. Ich bin nicht in einer anderen Sphäre. Das hier ist meine Welt.
Sieben Schritt vor ihm stand auf einem Podest ein Thron. Aus einem einzigen Baumstamm aus rotem Holz gehauen und ungeglättet; breite Rindenstreifen, von denen viele aufgesprungen waren, hatten sich von den Seiten gelöst. Schatten glitten in der Rinde dahin, schwammen in den tiefen Furchen, quollen heraus und schossen durch die umgebende Luft, ehe sie im Dämmerlicht des Zimmers verschwanden.
Der Thron des Schattens. Nicht in einer verborgenen, lang vergessenen Sphäre. Er ist
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