SdG 08 - Kinder des Schattens
flüsternd versicherte, dass sein Körper auf einer Schlafpritsche in einem Edur-Langhaus lag.
Er war hier, und er erfror hier.
Hier. In den Tiefen des Eises, in dieser Welt der Geheimnisse, in der die Zeit aufgehört hat zu existieren.
Er drehte sich um und musterte den Eingang.
Und bemerkte erst jetzt die Fußspuren auf den frostüberzogenen Pflastersteinen. Sie führten nach draußen. Bloße Füße, menschliche Füße – die Füße eines Kindes.
Jenseits der Türöffnung war kein Eis zu sehen. Nichts als undurchsichtiges Silber, als wäre ein Vorhang über den Eingang gefallen.
Mit vor Kälte allmählich taub werdenden Gliedern folgte Udinaas den Fußspuren. Sie führten hinter die stehende Gestalt. Wo er nach einem schockierten Augenblick sah, dass dem Mann der Hinterkopf eingeschlagen worden war. Noch immer klebten Haut und Haare an den Schädelknochen, die bis zum Nacken herunterhingen. Etwas wie eine Faust hatte in den Kopf der Gestalt gegriffen und das graue Fleisch des Gehirns zerfetzt.
Die Verletzung wirkte unerklärlicherweise frisch.
Kleine Fußspuren deuteten darauf hin, dass das Kind hinter der Gestalt gestanden hatte – nein, dass es hinter der Gestalt erschienen war, denn andere Fußspuren gab es nicht. Es war erschienen, um was zu tun? In den Schädel eines toten Mannes zu greifen? Doch die Gestalt war so groß wie ein Edur. Das Kind hätte klettern müssen.
Seine Gedanken verlangsamten sich. Das Nachdenken über dieses entsetzliche Geheimnis wurde von einer angenehmen Trägheit begleitet. Und er wurde schläfrig. Was ihn erheiterte. Ein Traum, der ihn schläfrig machte. Ein Traum, der mich umbringen wird. Würden sie einen gefrorenen Leichnam auf der Pritsche finden? Und würde das als Omen betrachtet werden?
Nun gut, dann heißt das also, den Fußspuren zu folgen … in diese silberne Welt. Was blieb ihm anderes übrig?
Nach einem letzten Blick auf die erstarrte Szenerie aus längst vergangenem Mord und erst kürzlich erfolgter Schändung stolperte Udinaas langsam auf den Eingang zu.
Das Silber umschloss ihn, und Geräusche drangen von allen Seiten auf ihn ein. Die Geräusche einer Schlacht. Lautes Gebrüll, das Klirren von Waffen. Doch er konnte nichts sehen. Hitze wogte von links über ihn hinweg, trug eine Kakophonie unmenschlicher, schriller Schreie heran.
Seine Füße verloren den Kontakt zum Boden, und die Geräusche verebbten, kamen bald nur noch von weit unten. Der Wind heulte, und Udinaas begriff, dass er flog, in der Luft gehalten von ledrigen Schwingen. Andere seiner Art segelten auf den gepeinigten Luftströmungen dahin – er konnte sie jetzt sehen, wie sie aus der Wolke auftauchten. Graue, schuppige Körper, groß wie Ochsen, muskelstrotzende Hälse, mit Krallen versehene Hände und Füße. Lange, sich neigende Köpfe, deren Lefzen Reihen dolchähnlicher Zähne und helles Zahnfleisch enthüllten. Augen in der Farbe von Lehm, die Pupillen senkrechte Schlitze.
Locqui Wyrm. Das ist unser Name. Brut von Starvald Demelain, die verkommenen Kinder, die niemand die seinen nennt. Wir sind wie Fliegen, die sich um ein verwesendes Festmahl versammeln, in einer Sphäre nach der anderen. D’isthal Wyvalla, Enkar’al, Trol- wir sind die dämonische Geißel in tausend Pantheons.
Wildes Frohlocken. Es gab noch andere Dinge als die Liebe, von denen man leben konnte.
Eine Woge aus Luft stieß gegen ihn – schob ihn und seine Artgenossen zur Seite. Tierische Schreie seiner Verwandten, als etwas bedrohlich ins Gesichtsfeld rückte.
Eleint! Wechselgänger, aber, oh, so viel Drachenblut. Tiams Blut.
Knochenweiße Schuppen, mit Blut verschmiert wie mit nebelhafter Farbe, von monströser Größe – so dräute der Drache, dem die Wyrm sich zu folgen entschieden hatten, neben ihnen.
Und Udinaas kannte seinen Namen.
Silchas Ruin. Ein Tiste Andii, der sich im Gefolge seines Bruders genährt hatte – sich von Tiams Blut genährt hatte, und er hatte viel getrunken. Weit mehr als Anomander Rake. Dunkelheit und Chaos. Er hätte die Last, ein Gott zu sein, auf sich genommen, hätte man ihm die Gelegenheit dazu gegeben.
Udinaas wusste jetzt, was er gleich zu sehen bekommen würde. Das Erscheinen auf der Hügelkuppe weit unter ihnen. Den Verrat. Schattens Mord an der Ehre durch den Bruch der Eide. Ein Messer im Rücken und die Schreie der Wyrm hier oben, in den brodelnden Lüften über dem Schlachtfeld. Das Schattengespenst hatte nicht gelogen. Das Vermächtnis der Tat war die anhaltende
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