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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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Udinaas leer. In den Augen des Sklaven hatte Mayens Abgang eher wie eine Flucht ausgesehen; sie war so staksig gegangen, als stünde sie kurz vor einem hysterischen Ausbruch.
    Augenblicke wie diesen würde es noch häufiger geben, vermutete Udinaas. Plötzliche Unterbrechungen im normalen Tagesablauf. Und daher war er nicht überrascht, als Rhulad ihn näher zu sich heranwinkte, und Udinaas in den Augen des Imperators sah, wie Angst und Entsetzen in ihm aufstiegen.
    »Stell dich dicht zu mir, Sklave«, keuchte Rhulad. Ein heftiges Zittern durchlief ihn. »Hilf mir, mich zu erinnern! Bitte! Udinaas –«
    Der Sklave überlegte einen Moment und sagte dann: »Ihr seid gestorben. Euer Leichnam wurde angekleidet, um ein ehrenvolles Begräbnis als gebluteter Krieger der Hiroth zu erhalten. Dann seid Ihr zurückgekehrt. Durch das Schwert, das Ihr nun in der Hand haltet, seid Ihr zurückgekehrt und wieder am Leben.«
    »Ja, das ist es. Ja.« Ein Lachen, das zu einem durchdringenden Kreischen anschwoll und abrupt aufhörte, als ein Krampf Rhulad durchfuhr. Er keuchte, als hätte er Schmerzen, und murmelte: »Die Wunden …«
    »Imperator?«
    »Es ist nicht wichtig. Nur Erinnerungen. Kaltes Eisen, das sich in meinen Körper bohrt. Kaltes Feuer. Ich habe es versucht. Ich habe versucht, mich um meine Wunden zusammenzukrümmen. Ganz eng. Um das zu schützen, was ich schon verloren hatte. Ich erinnere mich …«
    Udinaas schwieg. Da der Imperator ihn nicht anblickte, konnte er sein Gegenüber ungestört beobachten. Und seine Schlüsse ziehen.
    Die Jungen sollten nicht sterben. Dieser letzte Moment war für die Alten gedacht. Manche Regeln sollten niemals gebrochen werden, und es spielte eigentlich auch kaum eine Rolle, ob die Beweggründe etwas mit Leidenschaft oder kalter Berechnung zu tun hatten. Rhulad war zu lange tot gewesen – so lange, dass er einen gewissen seelischen Schaden davongetragen haben musste. Wenn der Imperator ein Werkzeug sein sollte, dann war es fehlerhaft.
    Und welchen Wert hatte es dann?
    »Wir sind unvollkommen.«
    Udinaas zuckte zusammen, sagte jedoch nichts.
    »Verstehst du das, Udinaas?«
    »Ja, Imperator.«
    »Wie kommt das? Wie kommt es, dass du das verstehst?«
    »Ich bin ein Sklave.«
    Rhulad nickte. Seine linke Hand, von Gold umhüllt, hob sich, um sich zu seiner Rechten zu gesellen, die den Griff des Schwertes umfasste. »Ja, natürlich. Ja. Unvollkommen. Wir können die Ideale, die uns gesetzt sind, niemals erreichen. Das ist die Bürde der Sterblichkeit.« Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. »Nicht nur die der Sterblichen.« Ein Flackern in den Augen, die sich kurz auf den Sklaven richteten und dann wieder wegblickten. »Er flüstert in meinem Geist. Er sagt mir, was ich sagen soll. Er macht mich klüger, als ich bin. Was macht das aus mir, Udinaas? Was macht das aus mir?«
    »Einen Sklaven.«
    »Aber ich bin ein Tiste Edur.«
    »Ja, Imperator.«
    Rhulads Gesicht verfinsterte sich. »Ich habe ein Geschenk erhalten. Mein Leben, das mir zurückgegeben wurde.«
    »Ihr seid ein Schuldner.«
    Rhulad zuckte in seinem Stuhl zurück, in seinen Augen loderte plötzlich die Wut. »Wir sind nicht gleich, Sklave! Verstehst du das? Ich bin keiner von deinen Schuldnern. Ich bin kein Letherii.« Dann sank er in sich zusammen; die Münzen schabten aneinander. »Hol mich die Tochter, das Gewicht dieses …«
    »Es tut mir Leid, Imperator. Es ist wahr. Ihr seid kein Schuldner. Und Ihr seid vielleicht auch kein Sklave. Obwohl es sich möglicherweise manchmal so anfühlt. Wenn die Erschöpfung Euch zusetzt.«
    »Ja, das ist es. Ich bin müde. Das ist alles. Müde.«
    Udinaas zögerte kurz, ehe er fragte: »Imperator, spricht er jetzt durch Euch?«
    Ein schwaches Kopfschütteln. »Nein. Aber er spricht sowieso nie durch mich. Er flüstert mir nur Ratschläge zu, hilft mir, die richtigen Worte zu wählen. Ordnet meine Gedanken – aber es sind meine Gedanken. Es müssen meine Gedanken sein. Ich bin kein Narr. Ich verfüge selbst über Klugheit. Ja, das ist es. Er flüstert mir nur Selbstvertrauen zu.«
    »Ihr habt noch nichts gegessen«, sagte Udinaas. »Oder getrunken. Habt Ihr Hunger und Durst, Imperator? Kann ich Euch etwas besorgen, um Eure Kraft wiederherzustellen?«
    »Ja, ich will etwas essen. Und … Wein. Such einen Diener.«
    »Sofort, Herr.«
    Udinaas ging zu dem schmalen Vorhang, hinter dem sich der Durchgang zu dem Korridor verbarg, der zu den Küchen führte. Ein Dutzend Schritte von dem

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