SdG 12 - Der Goldene Herrscher
die ganze Nacht durch Tunnel, ansteigende Gänge und über spiralförmige Rampen gewandert. Die Luft war abgestanden, trotz eines stetigen abwärts gerichteten Luftstroms, der beinahe den Eindruck erweckte, als würde er in jedem Raum und jedem Korridor, den er durchquerte, Geister sammeln.
Sie wandte den Blick von Silchas Ruin ab, ärgerte sich über die Faszination, die dieser wilde, überirdische Krieger auf sie ausübte - genau wie seine Fähigkeit, vollkommen reglos dastehen zu können, so dass selbst das Heben und Senken seiner Brust kaum auszumachen war. Er war Jahrtausende lang begraben gewesen, aber er lebte tatsächlich. In seinen Adern floss Blut, und Gedanken stiegen in ihm auf, beschmutzt vom Staub des Brachliegens. Wenn er sprach, konnte sie das Gewicht von Grabsteinen hören. Es war ihr unvorstellbar, wie jemand so etwas erleiden konnte, ohne verrückt zu werden.
Andererseits war er ja vielleicht tatsächlich verrückt - vielleicht lauerte irgendetwas tief in seinem Innern, das sich entweder angesichts der Notlage zurückhielt oder nur auf seine Befreiung wartete. Als Mörder - denn das war er ganz gewiss - war er gleichermaßen gründlich wie leidenschaftslos. Als könnte die Bedeutung, die das Leben eines sterblichen Wesens hatte, auf ein chirurgisch präzises Urteil verkürzt werden: Hindernis oder Verbündeter. Alles andere spielte keine Rolle.
Sie verstand den Trost, der darin lag, die Welt auf diese Weise zu betrachten. Die Erleichterung, die eine solch einfache Sichtweise bot, war verlockend. Aber für sie unmöglich. Man konnte sich nicht selbst blind für die Kompliziertheit der Welt machen. Doch für Silchas Ruin hatte die scheinbare Kompliziertheit keine Bedeutung. Er hatte eine Art Gewissheit gefunden, und sie war unerschütterlich.
Leider war Forcht Sengar nicht darauf vorbereitet, die Aussichtslosigkeit seiner immer wiederkehrenden Angriffe auf Silchas Ruin zu akzeptieren. Der Tiste Edur stand unweit der dreieckigen Türöffnung, durch die sie bald hindurchgehen würden, als würde diese Ruhepause seine Ungeduld nur vergrößern. »Ihr glaubt«, sagte er jetzt zu Silchas Ruin, »dass ich im Grunde genommen nichts über den alten Krieg, über das Eindringen in diese Sphäre weiß.«
Der Albino aus dem Volk der Tiste Andii richtete den Blick auf Forcht Sengar, sagte aber nichts.
»Die Frauen haben sich erinnert«, sagte Forcht. »Sie haben die Geschichten an ihre Töchter weitergegeben. Generation um Generation. Ja, ich weiß, dass Scabandari Euch ein Messer in den Rücken gerammt hat, auf jenem Hügel oberhalb des Schlachtfelds. Aber war das der erste Verrat?«
Falls er eine Reaktion erwartete, wurde er enttäuscht.
Udinaas, der auf dem Boden saß und sich an die schuppige Wand lehnte, lachte leise auf. »Eure Debatten sind so sinnlos«, sagte er. »Wer hat wen verraten. Was spielt das denn für eine Rolle? Es ist ja nicht so, dass uns hier Vertrauen zusammenhält. Sag mir, Forcht Sengar - du, der du einst mein Herr warst -, hat dein Bruder irgendeine Ahnung, wer Ruin ist? Wo er hergekommen ist? Ich nehme an, dass dem nicht so ist. Denn sonst hätte er uns persönlich verfolgt, mit zehntausend Kriegern in seinem Gefolge. Stattdessen spielen sie mit uns. Willst du nicht einmal wissen, warum?«
Ein halbes Dutzend Herzschläge lang sagte niemand ein Wort, dann begann Kessel zu kichern. Alle Blicke richteten sich auf sie. Sie blinzelte eulenhaft. »Sie wollen natürlich, dass wir erst einmal finden, was wir suchen.«
»Und warum durchkreuzen sie dann alle unsere Versuche, weiter ins Landesinnere vorzudringen?«, wollte Seren wissen. »Weil sie wissen, dass das die falsche Richtung ist.«
»Und woher sollen sie das wissen?«
Kessels kleine, staubige Hände flatterten wie Fledermäuse vor ihr durch die Luft. »Weil der Verkrüppelte Gott es ihnen gesagt hat, darum. Der Verkrüppelte Gott hat gesagt, dass der richtige Zeitpunkt, um nach Osten zu reisen, noch nicht gekommen ist. Er ist noch nicht zum offenen Krieg bereit. Er will nicht, dass wir in die Wildlande gehen, wo alle Geheimnisse warten.«
Seren Pedac starrte das Mädchen an. »Im Namen des Abtrünnigen - wer ist der Verkrüppelte Gott?«
»Derjenige, der Rhulad das Schwert gegeben hat, Freisprecherin. Die wahre Macht hinter den Tiste Edur.« Kessel riss die Arme hoch. »Scabandari ist tot. Hannan Mosag hat den Handel abgeschlossen - und das Zahlungsmittel war Rhulad Sengar.«
Forcht stand da, die Zähne gebleckt, und
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