Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
in die Nacht. King war das genaue Gegenteil: Normalerweise war er um fünf Uhr nachmittags zu Hause, bosselte in seiner Werkstatt herum, ging zum Fischen oder fuhr mit dem Boot hinaus auf den See gleich hinter seinem Haus. Von daher passten sie recht gut zusammen.
King öffnete die Bürotür und trat ein. Die Sekretärin, die in Personalunion auch als Empfangsdame fungierte, war um diese Zeit ebenfalls noch nicht da; es war noch nicht einmal acht Uhr.
Der umgestürzte Stuhl war das Erste, was ihm auffiel, und gleich danach die vielen Dinge, die eigentlich auf den Schreibtisch der Sekretärin gehörten, nun aber kreuz und quer über den Boden verstreut lagen. Automatisch glitt seine Hand zu seinem Pistolenholster – nur trug er keines bei sich, und er erst recht keine Pistole. Das Einzige, was er mit sich führte, war ein von ihm selbst aufgesetzter Testamentsnachtrag in seiner Aktentasche, doch mit dem konnte er allenfalls die künftigen Erben erschrecken. Also hob er einen massiven Briefbeschwerer vom Boden auf und blickte sich um. Das, was er als Nächstes sah, ließ ihn erstarren.
Vor der Tür zu Baxters Büro befand sich eine Blutlache auf dem Boden. King ging ein paar Schritte darauf zu, den Briefbeschwerer schlagbereit in der Hand. Mit der anderen Hand holte er sein Handy aus der Tasche, wählte 911, gab klar und deutlich seine Beobachtungen zu Protokoll und steckte das Mobiltelefon wieder ein. Er wollte schon die Tür zum Büro öffnen, da fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, dass er keine Fingerabdrücke verwischen durfte. Also zog er ein Taschentuch aus der Hosentasche. Vorsichtig drehte er den Türknopf. Seine Muskeln waren angespannt, zum Angriff bereit, und doch sagte ihm sein Instinkt, dass der Raum leer war. Er spähte in das noch dunkle Zimmer und knipste mit dem Ellenbogen das Licht an.
Die Leiche lag direkt vor ihm auf der Seite. Eine Schusswunde mitten in der Brust und die entsprechende Austrittswunde auf dem Rücken waren die einzigen erkennbaren Verletzungen. Der Tote war nicht Phil Baxter, sondern ein anderer Mann – ein Mann, den King gut kannte, sehr gut sogar. Und sein gewaltsamer Tod war dazu angetan, Sean Kings friedliche Existenz in ihren Grundfesten zu erschüttern.
Er hatte die ganze Zeit die Luft angehalten, nun atmete er aus. Schlagartig war ihm klar, was nun auf ihn zukam. »Jetzt geht das alles wieder von vorne los«, murmelte er.
KAPITEL 7
Der Mann saß in seinem Buick und beobachtete, wie Polizeifahrzeuge vor Kings Kanzleigebäude vorfuhren und die Uniformierten ins Haus stürmten. Sein Äußeres hatte sich, seit er nach dem Abtransport von John Bruno die Rolle des alten Schnitzers vor dem Bestattungsinstitut aufgegeben hatte, sehr verändert. An jenem Tag hatte er einen Anzug getragen, der ihm um zwei Nummern zu groß war, und dementsprechend klein und abgezehrt ausgesehen. Auch die schlechten Zähne, der Schnurrbart, der Flachmann, die Schnitzerei und der Batzen Kaugummi im Mund hatten zu der raffinierten Inszenierung gehört, die auf ihn aufmerksam machen sollte. Jeder, der ihn so sah, bekam einen unauslöschlichen Eindruck von ihm und seinem Wesen – und zwar einen in jeder Hinsicht falschen. Und genau das war der Zweck der Übung gewesen.
Inzwischen hatte er sich wesentlich verjüngt, um etwas mehr als dreißig Jahre vielleicht. Ebenso wie King hatte er sich neu erfunden. Er kaute an einem Butterbrötchen, schlürfte schwarzen Kaffee und dachte in aller Ruhe darüber nach, wie King wohl auf die Entdeckung der Leiche in seinem Büro reagiert hatte. Am Anfang natürlich mit einem heillosen Schrecken, dann vielleicht verärgert, aber nicht überrascht – nein, überrascht bestimmt nicht, wenn man es genau bedachte.
Der Mann schaltete das Radio ein, das immer auf den lokalen Sender eingestellt war, und erwischte gerade noch die Acht-Uhr-Nachrichten. Sie begannen mit dem Entführungsfall Bruno, der derzeit vermutlich überall auf der Welt für Schlagzeilen sorgte und in Amerika, zumindest vorübergehend, selbst den Ereignissen im Nahen Osten und den Football-Ergebnissen die Schau stahl.
Während sich der Mann Butter und Sesamkörner von den Fingern leckte, berichtete der Reporter über Michelle Maxwell, die Einsatzleiterin beim Secret Service, die inzwischen offiziell beurlaubt worden war. Er wusste, was das bedeutete: Sie stand bereits mit einem Fuß im Grab ihrer Karriere.
Die Frau war also erst einmal weg vom Fenster – zumindest offiziell. Aber inoffiziell? Weil
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