Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
er diese Frage nicht beantworten konnte, hatte er sich ihre Züge genau eingeprägt, als sie an jenem Tag an ihm vorübergegangen war. Es war nicht auszuschließen, dass er es noch einmal mit ihr zu tun bekommen würde. Ihr Hintergrund war ihm inzwischen bestens vertraut, doch je mehr Informationen er über sie besaß, desto besser. Eine Frau wie diese verkroch sich in einer solchen Situation entweder daheim im stillen Kämmerlein und pflegte ihre Verbitterung – oder aber sie ging in die Offensive und scheute dabei auch vor Risiken nicht zurück. Nach dem Wenigen zu schließen, das er von ihr gesehen hatte, durfte die zweite Möglichkeit die wahrscheinlichere sein.
Er konzentrierte sich wieder auf die Szenerie vor seinen Augen. Während erst ein weiterer Streifenwagen und dann der Kombi der Spurensicherung auf dem kleinen Parkplatz vor dem Haus hielten, näherten sich noch andere Leute der Kanzlei. Sie schienen dort zu arbeiten oder hatten gerade ihre Geschäfte geöffnet und den Aufmarsch der Polizei beobachtet. Ein solches Ereignis hatte die kleine, rechtschaffene Landmetropole Wrightsburg vermutlich noch nie erlebt. Die uniformierten Polizisten schienen kaum zu wissen, was sie tun sollten. Der Mann im Buick, der an seinem Brötchen kaute, fand seine Beobachtungen geradezu herzerfrischend. Wie lange hatte er darauf warten müssen! Jetzt wollte er die Sache auch genießen. Und immerhin war dies alles ja erst der Anfang…
Erneut fiel sein Blick auf die Frau, die vor dem Kanzleigebäude stand. Susan Whitehead war ihm bereits aufgefallen, als sie King auf dem Parkplatz angesprochen hatte. Wer war sie? Eine Freundin? Nein, eher wohl eine Möchtegern-Geliebte, wenn er den Verlauf der Begegnung richtig beurteilte. Er hob seine Kamera und machte ein paar Aufnahmen von ihr. Eigentlich rechnete er damit, dass King herauskam, um frische Luft zu schnappen, aber dem war offenbar nicht so. King hatte bei seinen nächtlichen Patrouillen eine ganz schöne Strecke zurückgelegt. Es gab so viele Nebenstraßen, einsame Nebenstraßen, die man befahren konnte – und da draußen, in der Tiefe der Wälder, konnte einem weiß Gott was auflauern. Andererseits – wo war ein Mensch heutzutage schon vollkommen sicher?
Im Kofferraum seines Wagens und darin wiederum in einer Tasche mit Reißverschluss befand sich ein ganz besonderer Gegenstand, der an einen ganz besonderen Platz gehörte. Die Gelegenheit, ihn dort abzuliefern, war jetzt optimal.
Der Mann warf die Überreste seines Frühstücks in eine Mülltonne auf dem Bürgersteig, legte den ersten Gang ein, steuerte seinen verrosteten Buick mit dem röhrenden Auspuff auf die Straße und fuhr davon. Im Vorbeifahren warf er noch einen Blick auf Kings Kanzlei und hob übermütig den Daumen. Als er Susan Whitehead passierte, die nach wie vor auf den Eingang des Gebäudes starrte, dachte er: Vielleicht besuch ich dich bald mal – ziemlich bald sogar.
Der Buick entschwand und ließ eine zu Tode erschrockene Gemeinde Wrightsburg hinter sich zurück.
Die erste Runde war nun offiziell vorbei. Der Mann im Buick konnte den Beginn der zweiten kaum erwarten.
KAPITEL 8
Walter Bishop, ein Mann, der in der Hierarchie des Secret Service einen sehr hohen Rang einnahm, ging unruhig auf und ab, während Michelle Maxwell an einem Tischchen saß und ihm zusah. Sie befanden sich in einem kleinen Konferenzraum tief im Innern eines Washingtoner Regierungsgebäudes. All die Menschen, die hier arbeiteten, waren noch ganz benommen von den Ereignissen der letzten Tage und Stunden.
»Sie sollten eigentlich froh darüber sein, dass man Sie nur beurlaubt hat, Maxwell«, sagte Bishop über seine Schulter.
»O ja, ich bin hin und weg, dass Sie mir meine Waffe und meine Dienstmarke abgenommen haben… Ich bin doch nicht blöd, Walter. Das Urteil ist längst gefällt. Ich bin weg vom Fenster.«
»Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen – sie hat gerade erst angefangen.«
»Stimmt. Jahre meines Lebens werden durchs Klo gespült.«
Er drehte sich ruckartig um und fuhr sie an: »Ein Präsidentschaftskandidat wird praktisch vor Ihrer Nase gekidnappt – ein absolutes Novum in der Geschichte des Secret Service. Herzlichen Glückwunsch! Sie sollten froh sein, dass Sie nicht vor einem Erschießungskommando landen. Es gibt durchaus ein paar Länder, in denen das in solchen Fällen üblich ist.«
»Glauben Sie nicht, dass ich das nachvollziehen kann, Walter? Diese Geschichte bringt mich schier
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