Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
war King aus dem Secret Service ausgeschieden, an die Universität zurückgekehrt, hatte sein Studium abgeschlossen und eine Ein-Mann-Kanzlei in Wrightsburg eröffnet. Inzwischen hatte er einen Geschäftspartner gefunden und sich in jeder Hinsicht eingelebt: Er war ein angesehener Jurist und mit vielen prominenten und einflussreichen Bürgern der Region befreundet. Er diente seiner Gemeinde als ehrenamtlicher Hilfspolizist und auf anderen Gebieten. Als einer der begehrtesten Junggesellen weit und breit ging er mit Frauen aus, die ihm gefielen, und ließ es bleiben, wenn sie ihm nicht gefielen. Er verfügte über einen großen, sehr gemischten Bekanntenkreis und einen kleinen harten Kern echter Freunde. Seine Arbeit machte ihm Spaß, er genoss seine Freizeit und ließ sich ansonsten kaum aus der Ruhe bringen. Sein Leben bewegte sich in einem sorgfältig aufgebauten, unspektakulären Rahmen, und er war damit vollkommen zufrieden.
Als er aus dem Lexus stieg, erblickte er die Frau und überlegte, ob er nicht schleunigst wieder hinter dem Steuer verschwinden sollte, aber es war bereits zu spät. Sie hatte ihn gesehen und kam sofort auf ihn zu.
»Hallo, Susan«, sagte er und holte seine Aktentasche vom Beifahrersitz.
»Sie sehen müde aus«, sagte sie. »Ich weiß wirklich nicht, wie Sie das alles schaffen.«
»Was schaffen?«
»Tagsüber viel beschäftigter Anwalt, nachts Polizist.«
»Freiwilliger Hilfspolizist, Susan, und das nur einmal in der Woche. Ehrlich gesagt, das Aufregendste, was vergangene Nacht passiert ist, war, dass ich einem Opossum ausweichen musste. Fast hätte ich es erwischt.«
»Ich wette, dass Sie beim Secret Service tagelang ohne Schlaf auskommen mussten. Wie aufregend, aber sicherlich auch furchtbar anstrengend!«
»Nein, eigentlich nicht«, sagte er und machte sich auf den Weg ins Büro. Sie folgte ihm.
Susan Whitehead war Anfang vierzig, geschieden, attraktiv, reich und offenbar fest entschlossen, ihn zu ihrem vierten Ehemann zu machen. King hatte sie bei ihrer letzten Scheidung anwaltlich vertreten und kannte daher aus erster Hand ihre unglaubliche Launenhaftigkeit und Rachsucht. Seine Sympathien lagen eindeutig beim armen Gatten Nummer drei, einem schüchternen, verschlossenen Mann, der hoffnungslos unter ihrer Knute gestanden hatte. Eines Tages war er ausgebrochen und hatte sich in Las Vegas vier Tage lang dem Suff, dem Spiel und dem Sex hingegeben – und das war der Anfang vom Ende gewesen. Inzwischen war er ärmer, aber zweifellos auch glücklicher. King hatte nicht die geringste Lust, an seine Stelle zu treten.
»Ich gebe am Samstagabend eine kleine Dinnerparty und würde mich sehr über Ihren Besuch freuen«, sagte Susan.
Er rief sich seinen Terminkalender ins Gedächtnis, stellte fest, dass er am Samstagabend noch nichts vorhatte und sagte, ohne mit der Wimper zu zucken: »Tut mir Leid, aber da bin ich schon ausgebucht. Trotzdem vielen Dank. Vielleicht ein andermal.«
»Sie sind oft ausgebucht, Sean«, erwiderte sie leise. »Ich hoffe doch sehr, dass irgendwann mal eine Lücke für mich frei ist.«
»Ein Anwalt und seine Klientin sollten sich persönlich nicht zu nahe kommen, Susan, das ist nicht gut.«
»Aber ich bin doch gar nicht mehr Ihre Klientin.«
»Trotzdem, es ginge nicht gut, glauben Sie mir.« Er stand jetzt vor der Haustür und schloss auf, bevor er hinzufügte: »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.« Dann ging er hinein, verharrte einige Sekunden lang im Foyer, atmete erleichtert auf, als er merkte, dass sie nicht hinter ihm hergefegt kam, und ging die Treppe zu den Büroräumen hinauf. Er war fast immer der Erste am Arbeitsplatz. Sein Partner, Phil Baxter, war der Strafverteidiger der Kanzlei, während King sich auf die anderen Gebiete konzentrierte: Testamente, Stiftungen, Immobilien, Geschäftsverträge – lauter ständig sprudelnde Geldquellen. In stillen Ecken und Winkeln rund um Wrightsburg hatte sich viel verborgener Wohlstand eingenistet. Filmstars, schwerreiche Unternehmer, Schriftsteller und andere betuchte Seelen waren hier zu Hause. Sie liebten die Gegend wegen ihrer landschaftlichen Schönheit, ihrer Einsamkeit, ihrer Diskretion und wegen der örtlichen Infrastruktur in Form von guten Restaurants, guten Einkaufsmöglichkeiten, einer lebendigen Kulturszene und einer Universität von Weltrang im benachbarten Charlottesville.
Phil Baxter war kein Frühaufsteher – das Gericht öffnete ja auch erst um zehn Uhr –, aber er arbeitete oft bis spät
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