Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
Hintergrund. Die Frau war als ehemaliges Mitglied der amerikanischen Studentenmannschaften im Basketball und in der Leichtathletik nicht nur ein sportliches Ass, sondern auch ein akademisches Schwergewicht: In nur drei Jahren hatte sie ihr Kriminalistik-Studium an der Georgetown University durchgezogen. Und als wäre dies alles noch nicht genug, hatte sie ihre beachtlichen sportlichen Talente noch in einer weiteren Sportart unter Beweis gestellt und bei den olympischen Spielen eine Silbermedaille im Rudern gewonnen… Eine akademisch gebildete Sportlerin, in der Tat sehr anregend, dachte King. Michelle Maxwell hatte ein Jahr lang bei der Polizei in ihrem Heimatstaat Tennessee gearbeitet, sich dann dem Secret Service angeschlossen und dort die Karriereleiter doppelt so schnell wie üblich erklommen. Im Augenblick jedoch spielte sie die schöne Rolle des Sündenbocks.
Und schön ist sie, auch als Sündenbock, dachte King – und stockte. Schön? Ja, und doch verriet das Bild auch maskuline Qualitäten. Da war zum Beispiel ihr energischer, fast ein wenig ausladender Gang. Oder ihre beeindruckende Schulterbreite – kein Wunder bei so viel Ruderei. Oder ihre markante Kieferpartie, die auf eine sich immer wieder durchsetzende, verbissene Hartnäckigkeit deutete. Dennoch wies sie auch unleugbar feminine Züge auf. Sie war über eins fünfundsiebzig groß, trotz der breiten Schultern schlank und hatte hübsche, zarte Kurven. Ihr glattes, schwarzes Haar trug sie schulterlang, noch den Vorschriften des Service entsprechend, aber doch schick. Sie hatte hohe, kräftige Wangenknochen und grün schimmernde, intelligente Augen, denen garantiert nur sehr wenig entging. Ohne einen solchen Röntgenblick konnte man im Secret Service gleich einpacken.
Der Gesamteindruck, den Michelle Maxwell vermittelte, war nicht der einer klassischen Schönheit. Aber man erkannte deutlich, dass sie das Mädchen war, das schon immer schneller und gescheiter war als alle Jungen. In der High School waren höchstwahrscheinlich alle männlichen Wesen ganz versessen darauf gewesen, sie entjungfern zu dürfen, aber King war überzeugt, dass das niemandem gelungen war – es sei denn zu Maxwells eigenen Bedingungen.
Na ja, sagte er in Gedanken zu der Frau auf dem Bildschirm, es gibt ein Leben nach dem Service… Du kannst noch einmal von vorn anfangen und dich unter anderen Vorzeichen neu profilieren. Du kannst, allen Unkenrufen zum Trotz, sogar ein halbwegs glückliches Leben führen. Nur vergessen wirst du nicht können. Tut mir Leid für dich, Michelle Maxwell, aber auch in diesem Punkt spreche ich aus Erfahrung…
Er sah auf seine Armbanduhr. Es war höchste Zeit. Sein Brotberuf rief nach ihm: Testamente und Pachtverträge ausfertigen und sich die Arbeit nach dem gültigen Stundensatz bezahlen lassen. Das war zwar nicht annähernd so spannend wie seine frühere Tätigkeit, doch in dieser Phase seines Lebens hatte Sean King überhaupt nichts gegen langweilige Routinearbeit einzuwenden. Was er an Aufregungen schon hinter sich hatte, reichte noch für mehrere weitere Leben.
KAPITEL 6
King fuhr sein Lexus-Cabriolet mit offenem Verdeck aus der Garage und trat zum zweiten Mal innerhalb von acht Stunden die Fahrt zur Arbeit an. Die kurvenreiche Bergstraße bot atemberaubende Ausblicke; hier und da zeigte sich Wild. Verkehr gab es kaum, jedenfalls nicht, bevor er auf den Highway Richtung Stadt einbog. Seine Kanzlei lag an der Main Street, die ihren Namen zu Recht trug, war sie doch die einzige einigermaßen ernst zu nehmende Straße im Herzen von Wrightsburg, einer kleinen und relativ jungen Gemeinde auf halbem Wege zwischen den erheblich größeren Städten Lynchburg und Charlottesville.
Er stellte den Wagen auf dem Parkplatz hinter dem zweistöckigen, aus weißem Klinker erbauten Haus ab, in dem das »Anwaltsbüro und Notariat King & Baxter« untergebracht war, wie das Firmenschild am Eingang stolz verkündete. King hatte an der nur dreißig Autominuten entfernten Universität von Virginia Rechtswissenschaften studiert, bis er nach zwei Jahren den Bettel hinschmiss und sich für eine Karriere beim Secret Service entschied. Damals hatte er sich nach einem Leben gesehnt, das mehr Aufregung versprach als jenes, das ihm ein Stapel juristischer Lehrbücher und die sokratische Methode bieten konnten. Er konnte sich nicht beklagen: Sein Quantum an Abenteuern hatte er gehabt.
Nachdem sich der durch die Ermordung Clyde Ritters aufgewirbelte Staub gelegt hatte,
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