Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
einigermaßen klar denken konnte, und so fiel ihm auch erst mit Verspätung auf, dass er Arme und Beine bewegen konnte. Vorsichtig tastete er seine Umgebung ab. Keine Fesseln. Ganz langsam und jederzeit auf einen Angriff gefasst, richtete er sich auf. Er streckte einen Fuß aus, bis er festen Grund darunter spürte. Dann stand er auf. Er hatte irgendetwas im Ohr, etwas anderes scheuerte ihn im Nacken, und an seiner Hüfte spürte er eine Ausbuchtung.
Schlagartig flammte helles Licht auf, und King starrte auf die Reflexion seiner selbst in einem großen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Er trug einen dunklen Anzug mit gemusterter Krawatte und an den Füßen schwarze Lederschuhe mit Gummisohlen. Seine tastende Hand hatte soeben eine Pistole vom Kaliber .357 aus dem Schulterholster gezogen. Sogar sein Haar war anders frisiert als sonst. Genau so, wie es damals im… Verflucht! Sogar seine grau melierten Schläfen waren dunkel gefärbt.
Er versuchte, das Magazin der Waffe zu überprüfen, aber es war irgendwie versiegelt und ließ sich nicht öffnen. Das Gewicht der Pistole verriet ihm, dass sie geladen war, wenn auch sicher nur mit Platzpatronen. Die Waffe entsprach haargenau jener, die er 1996 getragen hatte. Er schob sie ins Holster zurück und betrachtete sein Spiegelbild, das genau acht Jahre jünger zu sein schien als er selbst. Er trat näher an den Spiegel heran. An seinem Revers steckte, wie ihm jetzt auffiel, seine Secret-Service-Nadel – und zwar die rote, die er am Morgen des 26. September 1996 angesteckt hatte. In der Brusttasche des Jacketts entdeckte er eine Sonnenbrille.
Er drehte den Kopf ein wenig und sah das spiralig gedrehte Kabel des Kopfhörers in seinem linken Ohr. Es war nicht zu leugnen: Er war wieder der Secret-Service-Agent Sean Ignatius King von einst. Unglaublich, was alles geschehen war seit jenem Mord an Howard Jennings in seinem Büro! Der schiere Zufall… Er starrte auf sein verblüfftes Gesicht im Spiegel. Die getürkte Anklage gegen Ramsey – nein, sie war nicht John Brunos Werk gewesen. Endlich fiel das letzte Puzzleteil an seinen Platz. Er wusste Bescheid – und konnte nichts mehr damit anfangen. Und die Chancen, dass er nie mehr die Gelegenheit zu einer Richtigstellung bekommen würde, standen außerordentlich hoch.
Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es kam von weither und klang wie das gedämpfte Gemurmel Hunderter von Stimmen. Die Tür am anderen Ende des Raumes stand offen. King zögerte erst, dann ging er hinaus. Auf dem Weg durch den Flur fühlte er sich wie eine Versuchsratte im Labyrinth, und je weiter er ging, desto stärker wurde dieses Gefühl. Es war alles andere als beruhigend – aber was blieb ihm übrig?
Am Ende des Korridors glitt eine Tür auf, und aus der Öffnung drang helles Licht. Das Stimmengewirr war nun viel lauter. King straffte die Schultern und schritt hindurch.
Der Stonewall-Jackson-Saal des Fairmount-Hotels sah ganz anders aus als bei Kings letztem Besuch – und kam ihm dennoch ungemein vertraut vor. Der Saal war hell erleuchtet, das samtene Absperrseil mit den Pfosten verlief exakt auf der gleichen Linie wie vor acht Jahren. Die Menschenmenge – dargestellt durch Hunderte von sorgfältig bemalten, auf Metallständern befestigten Pappfiguren, die Wimpel und Poster mit der Aufschrift »Wählt Clyde Ritter« in die Höhe hielten – stand hinter der Absperrung. Das simulierte Stimmengemurmel kam aus verborgenen Lautsprechern. Die Inszenierung war bemerkenswert.
Während King sich umsah, stürzten Erinnerungen auf ihn ein. Er sah die Pappgesichter seiner Secret-Service-Kollegen, genau an jenen Stellen, wo sie vor all den Jahren tatsächlich gestanden hatten – äußerst schlecht positioniert, wie sich später erwiesen hatte. Es gab noch andere Gesichter, die er wieder erkannte. Unter den bemalten Pappkameraden waren einige, die Kleinkinder hochhielten, sie dem Kandidaten zum Küssen entgegenstreckten; andere schwenkten Notizblöcke und Kugelschreiber in der Hoffnung auf ein Autogramm; wieder andere fielen allein durch ihr breites Grinsen auf. An der Wand hing wieder die große Uhr. Die Zeiger standen auf 10.15 Uhr. Wenn ich das alles richtig interpretiere, dachte King, dann bleiben mir noch etwa siebzehn Minuten.
Sein Blick glitt hinüber zu den Aufzügen. Unwillkürlich runzelte er die Stirn. Wie authentisch soll das denn alles werden, dachte er. Genau so wie damals geht es kaum, weil das Überraschungsmoment fehlt. Aber sie haben
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