Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
Während alle Welt der Meinung war, ich säße in der Klapsmühle, konnte ich in aller Ruhe meinen kleinen Plan ausarbeiten und in die Tat umsetzen. Andernfalls wären einige Leute vielleicht neugierig geworden.« Morse streckte die Arme aus. »Denken Sie doch mal drüber nach! Gleich mehrere Darsteller aus der Ritter-Geschichte gemeinsam auf einer raffinierten Bühne wie dieser hier? Ich wäre unweigerlich in Verdacht geraten. Geistesgestört und weggeschlossen – das war die Ideallösung, viel besser als ›verstorben‹! Jeder Trottel kann sich für tot erklären lassen, das lässt sich doch manipulieren! Nein, dass Peter von mir eingeliefert wurde statt ich von ihm, war äußerst klug eingefädelt, und ich war sehr zuversichtlich, dass mir niemand auf die Schliche kommen würde.« Morse lächelte. »Und wenn man schon etwas tut, dann aber bitte gleich mit Grandezza, sonst lohnt es sich doch gar nicht.«
King schüttelte den Kopf. Wenn ich es schaffe, ihn weiterreden zu lassen, gewinne ich Zeit, dachte er. Der Mann gierte offenbar danach, sich mit seinem pompösen Plan zu brüsten, und King konnte sich währenddessen eine Strategie ausdenken. »Ich hätte es anders gemacht«, sagte er. »Ich hätte Peter erst eingeliefert und ihn dann umgebracht. Damit hätten Sie alle Welt von Ihrem Tod überzeugt.«
»Aber das hätte womöglich eine Autopsie nach sich gezogen. Beim Vergleich mit alten medizinischen und zahnmedizinischen Unterlagen wäre der Schwindel wahrscheinlich aufgeflogen. Stirbt er dagegen eines natürlichen Todes, ist alles in Ordnung. Überdies sahen wir uns ziemlich ähnlich, sodass ein paar kleinere Veränderungen hier und da genügten, um alle an der Nase herumzuführen. Mein Genie liegt ohnehin im Detail. So ist dieser Saal zum Beispiel schalldicht. Was soll das in einem aufgelassenen Hotel? Nun, der Schall ist unberechenbar: Es lässt sich nicht voraussehen, wohin er trägt, und Störungen kann ich nun wirklich nicht gebrauchen. Das würde die ganze Aufführung ruinieren, und bisher habe ich mein Publikum noch nie enttäuscht. Außerdem ist mir ein gewisser Stil eigen. Nehmen Sie nur die Notiz, die Sie vorhin erwähnten. Ich hätte sie Ihnen natürlich einfach in den Briefkasten werfen können. Aber eine Leiche an der Badezimmertür – das ist klassisch. Oder denken Sie an den Brand in Ihrem Haus… So arbeite ich eben.«
»Aber warum mussten Sie Bob Scott hineinziehen? Sie sagten doch selbst, dass niemand Sie verdächtigen würde.«
»Denken Sie doch nach, Agent King, so denken Sie doch bitte nach! Jedes Drama braucht seinen Bösewicht. Im Übrigen hat Agent Scott mir niemals den mir gebührenden Respekt erwiesen, als wir mit Ritter unterwegs waren. Er hat das noch bitter bereut.«
»Okay, Sie haben also das Gehirn Ihres Bruders verschrumpeln lassen, sein Gesicht verstümmelt und ihn gemästet, während Sie selber abgenommen haben. Dann sind Sie nach Ohio gezogen, wo man weder Sie noch Ihren Bruder kannte, und haben schließlich die Identität Ihres Bruders angenommen. Das ist echt ein starkes Stück! Perfekt inszeniert – genau wie der Wahlkampf von Clyde Ritter.«
»Clyde Ritter war nur das Mittel zum Zweck.«
»Richtig. Clyde Ritter spielte dabei gar keine Rolle, Arnold Ramsey dafür eine umso größere. Er besaß etwas, das Sie haben wollten – und zwar so sehr, dass Sie ihn in den Tod geschickt haben, um es in Ihren Besitz zu bekommen.«
»Ich habe ihm einen Gefallen getan. Ich wusste, dass Arnold Ritter hasste. Seine akademische Karriere hatte ihren Höhepunkt längst überschritten. Er war völlig am Boden und reif für mein Angebot. Ich habe ihn seine glorreiche Vergangenheit als radikaler Demonstrant noch einmal erleben und ihn als Mörder eines unmoralischen, abstoßenden Mannes in die Geschichte eingehen lassen – ein Märtyrer auf Jahrhunderte hinaus! Was konnte es Schöneres geben?«
»Was Schöneres für Sie hätte es schon gegeben! Nur allzu gerne wären Sie mit jener Trophäe davongezogen, hinter der Sie schon dreißig Jahre zuvor her waren, als Sie Ramsey den Mord an einem Nationalgardisten in die Schuhe schieben wollten. Aber dieser Versuch war fehlgeschlagen, genauso wie der Ritter-Plan fehlschlug. Obwohl Ramsey aus dem Weg geräumt war, blieb der angestrebte Preis unerreichbar für Sie.«
Morse gab sich amüsiert. »Nur zu, fahren Sie fort, Agent King, Sie machen das ganz gut. Was war denn das für ein Preis?«
»Die Frau, die Sie liebten, Regina Ramsey, die
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