Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
gestorben. Unter diesen Umständen hat man die Todesursache nicht überprüft, und es wurde natürlich auch keine Autopsie durchgeführt. Der Arzt hat einfach die Todesurkunde ausgefüllt und unterschrieben, und das war’s dann auch schon. Nach den Ereignissen hat man die Leiche jedoch sofort beschlagnahmt und toxikologisch untersuchen lassen.«
»Und? Hat man was gefunden?«
»Große Mengen an Roxanol, also flüssiges Morphium, das er gegen die Schmerzen einnahm, und mehr als einen Liter Mumifizierungsflüssigkeit, unter anderem. Keinen Mageninhalt, weil der bei der Leichenöffnung entfernt wurde. Unterm Strich also nicht gerade eine heiße Spur.«
Michelle sah ihre Freundin skeptisch an. »Aber hundertprozentig scheinst du davon nicht überzeugt zu sein.«
Die Freundin zögerte, dann zuckte sie mit den Schultern. »Mumifizierungsflüssigkeit dringt in alle größeren Gefäße ein, in Hohlräume und in feste Organe. Von daher lassen sich exakte Aussagen kaum treffen. Angesichts der Umstände dieses Todesfalls entnahm die Gerichtsmedizinerin jedoch auch eine Probe aus dem Zentralhirn, in das Mumifizierungsflüssigkeit normalerweise nicht vordringt. Und dort fand sie eine Spur Methanol.«
»Methanol! Aber das ist doch Bestandteil von solchen Konservierungsmitteln, oder? Und was bedeutet es, wenn die Mumifizierungsflüssigkeit ins Hirn gelangt ist?«
»Ja, das ist genau der Punkt, worüber wir uns den Kopf zerbrechen. Und falls du es noch nicht weißt – es gibt unterschiedliche Mumifizierungsflüssigkeiten. Teure enthalten weniger Methanol und dafür mehr Formaldehyd. Billige, wie jene, mit der Martin behandelt wurde, haben einen hohen Gehalt an reinem Methanol. Hinzu kommt, dass Methanol in vielen Dingen enthalten ist, zum Beispiel in Wein und Likör. Martin war angeblich ein schwerer Trinker, was das Methanol im Hirn erklären könnte, aber sicher war sich die Gerichtsmedizinerin nicht. Auf jeden Fall hätte es bei einem todkranken Mann wie Bill Martin keiner besonders großen Dosis Methanols bedurft, um ihn umzubringen.«
Michelles Freundin zog eine Akte hervor und blätterte sie durch. »Bei der Autopsie wurden auch organische Schäden wie eingeschrumpfte Schleimhäute und Risse in der Magenwand festgestellt – lauter Kennzeichen für eine Methanolvergiftung. Außerdem war der völlig verkrebste Körper bestrahlt und mit Chemotherapie behandelt worden – alles in allem ein furchtbares Chaos für die Gerichtsmedizinerin. Als wahrscheinliche Todesursache nimmt sie Kreislaufversagen an – aber es gibt natürlich eine Vielzahl von Gründen, aus denen ein so alter, todkranker Mann an Kreislaufversagen sterben kann.«
»Trotzdem ist das eine ganz schön raffinierte Idee, jemanden mit Methanol umzubringen, von dem man weiß, dass er vermutlich ohne Autopsie einbalsamiert wird«, erwiderte Michelle.
»Da läuft’s einem kalt den Rücken herunter, ehrlich gesagt.«
»Er muss ermordet worden sein«, fuhr Michelle fort. »Die Täter konnten nicht einfach abwarten und darauf hoffen, dass Martin genau zum richtigen Zeitpunkt stirbt und in der Leichenhalle aufgebahrt wird, wenn Bruno zufällig gerade in der Nähe ist.« Sie dachte kurz nach. »Gibt es schon eine Liste mit Verdächtigen?«
»Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Die Ermittlungen laufen ja noch, und ich habe dir schon viel mehr verraten, als ich eigentlich darf. Gut möglich, dass ich irgendwann an den Lügendetektor muss wegen dieser Sache.«
Als die Rechnung kam, griff Michelle sofort zu. Auf dem Weg hinaus fragte die Freundin sie: »Und was hast du jetzt vor? Tauchst du erst einmal ab? Oder suchst du dir einen anderen Job?«
»Abtauchen ja, neuer Job nein, jedenfalls jetzt noch nicht.«
»Was dann?«
»Ich bin nicht bereit, meine Karriere im Service kampflos aufzugeben.«
Die Freundin musterte sie aufmerksam. »Diesen Blick kenne ich doch. Woran denkst du?«
»Ich denke daran, dass du beim FBI bist und daher besser nicht erfährst, was in meinem Kopf vorgeht. Du sagst ja selber, dass sie dich vielleicht zu einem Lügendetektortest zwingen werden.«
KAPITEL 10
Der schlimmste Tag in Sean Kings Leben war der 26. September 1996 gewesen, der Tag, an dem Clyde Ritter starb, just in dem Augenblick, da sich Secret-Service-Agent King hatte ablenken lassen. Der zweitschlimmste Tag war zu seinem Bedauern der heutige. In seinem Büro drängten sich Polizisten, FBI-Agenten und die Spezialisten der Spurensicherung, stellten zahllose
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