Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
zart besaitet und nervös; der Anblick von Blut und Leiche hätte ihr nicht gut getan. Allerdings war sie erwiesenermaßen auch eine hoch begabte Klatschtante. King hegte nicht den geringsten Zweifel daran, dass abenteuerliche Spekulationen über die mörderischen Geschehnisse in der Kanzlei King & Baxter längst die Drähte im örtlichen Telefonnetz glühen ließen. In einem ruhigen Ort wie Wrightsburg konnten solche Ereignisse monate-, wenn nicht jahrelang für Gesprächsstoff sorgen.
Das Bürogebäude war von den Ermittlern versiegelt worden und wurde rund um die Uhr bewacht. Die Anwaltskanzlei King & Baxter sah sich daher gezwungen, ihre juristischen Aktivitäten vorübergehend von den Privathäusern der beiden Partner aus zu betreiben. Daher schleppten die beiden am Abend kartonweise Akten und andere Arbeitsunterlagen aus dem Haus in ihre Autos. Während der stiernackige Phil Baxter in seinem ebenfalls überdimensionierten Geländewagen davonfuhr, blickte King, an die Motorhaube seines Lexus gelehnt, zu seinem Büro hinauf. Es war hell erleuchtet, denn die Ermittler hatten ihre Arbeit noch nicht abgeschlossen. Im Schweiße ihres Angesichts durchsuchten sie die Räumlichkeiten Zentimeter um Zentimeter nach Indizien, von denen sie sich Aufschluss darüber erhofften, wer Howard Jennings eine Kugel in die Brust geschossen hatte. Hinter dem Gebäude zeichnete sich am Abendhimmel die Bergkulisse ab. Dort oben, dachte King, steht das Haus, das ich mir auf den Ruinen meines Lebens errichtet habe. Das war eine verdammt gute Therapie für mich. Und nun?
Er fuhr heim und fragte sich, was der nächste Morgen bringen würde. In der Küche aß er einen Teller Suppe, während im Fernsehen die Nachrichten liefen. Er sah sich selber auf der Mattscheibe, hörte Berichte über seine Vergangenheit beim Secret Service einschließlich seines unehrenhaften Abgangs, über seine Karriere als Anwalt in Wrightsburg sowie ein Sammelsurium an Spekulationen über den Tod von Howard Jennings. Er schaltete das Fernsehgerät aus und versuchte sich auf die mitgebrachte Arbeit zu konzentrieren, was ihm jedoch nicht gelang. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Am Ende saß er in seinem gemütlichen Arbeitszimmer, umgeben von seiner ihm so vertrauten juristischen Fachliteratur und langweiligen Dokumenten, und starrte Löcher in die Luft. Doch plötzlich fuhr er ruckartig aus seinen Grübeleien auf.
Er schlüpfte in Shorts und Sweater, griff sich eine Flasche Rotwein und einen Plastikbecher, stieg die Treppe hinunter, die zu dem überdachten Bootsschuppen hinter dem Haus führte, und bestieg sein Jet-Boot, das dort neben seinem Segelboot und seiner Sea-Doo, einer Art Wassermotorrad, untergebracht war. Außerdem besaß er ein Kajak und einen Kanadier. Der knapp einen Kilometer breite und etwa 13 Kilometer lange See mit seinen vielen Engstellen und Buchten war ein beliebtes Freizeitparadies für Wassersportler und Fischer. In seinen Tiefen tummelten sich Sonnenbarsche, Gestreifte Seebarsche und Katfische.
Inzwischen war jedoch der Sommer vorüber, und die Saisongäste waren längst abgereist. Kings Boote befanden sich auf elektrischen Hebebühnen. Er ließ das Jet-Boot zu Wasser, stellte den Motor an und drehte die Lichter auf. Dann gab er Gas und fuhr ungefähr drei Kilometer weit hinaus. Dabei sog er die frische Luft ein und ließ die kühle Brise über sich hinwegstreichen. In einer menschenleeren Bucht stellte er den Motor ab, ankerte, schenkte sich einen Becher Rotwein ein und dachte über seine Zukunft nach, die auf einmal wieder alles andere als rosig aussah.
Eines stand fest: Wenn sich die Nachricht verbreitete, dass eine vom WITSEC-Zeugenschutzprogramm betreute Person in seiner Anwaltskanzlei ermordet worden war, würde er wiederum landesweit in den Schlagzeilen stehen. King hatte einen Horror davor. Beim letzten Mal hatte ein Revolverblatt behauptet, eine Gruppe gewalttätiger Politradikaler habe ihn bestochen, bei dem Attentat auf Clyde Ritter im entscheidenden Augenblick mal kurz wegzuschauen. Immerhin, es gab in Amerika Gesetze gegen Verleumdung und üble Nachrede, und mit denen war nicht zu spaßen: Er hatte sich juristisch zur Wehr gesetzt und einen erklecklichen Schadensersatz erstritten. Das Geld war ihm beim Hausbau sowie beim beruflichen und persönlichen Neuanfang sehr zupass gekommen. Die Rufschädigung hatte es allerdings niemals wett machen können – wie wäre das auch möglich gewesen?
Er setzte sich aufs
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