Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
ausstreckte, um sich von ihm hochziehen zu lassen, übersah er sie geflissentlich.
Sie trug einen Rock, eine Bluse und eine kurze Jacke. Der Rock war während des Zusammenpralls fast bis zum Nabel hochgerutscht. Während sie sich aufrappelte, zog sie ihn wieder herunter.
»Fällst du immer so über deine Besucher her?«, fragte sie spitz, steckte die Pistole wieder in ihr Hüftholster und klopfte sich den Staub von den Kleidern.
»Die meisten meiner Besucher schnüffeln nicht heimlich auf meinem Grundstück herum.«
»Ich hab geklingelt, aber nichts hat sich gerührt.«
»In solchen Fällen geht man wieder und probiert es später noch mal. Hat dir das deine Mutter denn nicht beigebracht?«
Sie verschränkte die Arme über der Brust. »Wir haben uns lange nicht gesehen, Sean.«
»Ach, wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen. War wohl zu sehr mit meinem neuen Leben beschäftigt.«
Sie sah sich um. »Das sehe ich. Hübsch hast du ’s hier.«
»Was willst du hier, Joan?«
»Einen alten Freund besuchen, der bis zum Hals in der Scheiße steckt.«
»Echt? Wen denn?«
Sie lächelte spröde. »Ein Mord in deiner Kanzlei. Das ist doch wohl Scheiße, oder?«
»Stimmt. Meine Frage galt eher dem ›alten Freund‹.«
Sie nickte und deutete auf das Haus. »War ’ne lange Fahrt. Ich hab mal was von der berühmten Gastfreundschaft des Südens gehört. Wie wär’s, wenn du mir davon ’ne Kostprobe servieren würdest?«
Ihm war eher danach zumute, einen Warnschuss über ihren Kopf abzufeuern. Aber es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, was Joan Dillinger vorhatte: Er musste auf ihr Spielchen eingehen. »Was für eine Gastfreundschaft?«
»Nun, es ist schon fast neun, und ich habe noch nicht zu Abend gegessen«, sagte sie. »Fangen wir damit an, alles andere wird sich ergeben.«
»Da tauchst du nach all den Jahren unangemeldet hier auf und erwartest von mir, dass ich dir gleich was zu essen koche? Ganz schön mutig.«
»Das sollte dich inzwischen eigentlich nicht mehr wundern, oder?«
Während er das Essen zubereitete, sah sich Joan, in der Hand ein Glas Gin Tonic, das Sean ihr gegeben hatte, im Haus um. Dann hockte sie sich auf die Anrichte in der Küche und fragte: »Was macht dein Finger?«
»Der tut weh, wenn mich jemand richtig fertig macht – so eine Art Stimmungsring. Und dass du ’s nur weißt – im Augenblick pocht er höllisch.«
Sie ging auf den Seitenhieb nicht ein. »Sieht echt toll aus hier. Wie ich höre, hast du das Haus selbst gebaut.«
»War ’ne gute Beschäftigungstherapie.«
»Ich wusste gar nicht, dass du Zimmermann bist.«
»Ich hab schon in der Schule immer wieder mal was gebaut – für Leute, die es sich leisten konnten. Später hab ich mir dann gesagt, verdammt, das kannst du doch auch für dich selber tun.«
Sie aßen am Küchentisch, von dem aus sich ein großartiger Blick über den See bot. Dazu tranken sie eine Flasche Merlot, die King aus dem Weinkeller geholt hatte. Unter anderen Umständen wäre es eine sehr romantische Szene gewesen.
Nach dem Essen nahmen sie ihre Weingläser und gingen ins Wohnzimmer mit seiner hohen Decke und seinen Fensterfronten. Als King sah, dass Joan vor Kälte zitterte, drehte er den Gaskamin an und warf ihr eine Wolldecke zu. Dann saßen sie auf Ledersofas einander gegenüber. Joan streifte ihre hochhackigen Schuhe ab, zog die Beine an und legte die Decke darüber. Dann hob sie ihr Glas und prostete King zu. »Das Essen war fabelhaft.« Sie schnupperte am Bukett. »Und wie ich sehe, gehört auch der Beruf des Kellermeisters zu deinen Referenzen.«
»Okay, dein Bauch ist jetzt voll, und beschwipst genug bist du auch. Was willst du hier?«
»Wenn ein ehemaliger Agent plötzlich in einen Kriminalfall verwickelt ist, der umfangreiche Ermittlungen nach sich zieht, wird man einfach neugierig.«
»Dann hat man dich also geschickt?«
»In meiner Position kann ich mich selber schicken.«
»Also bist du inoffiziell hier – oder sollst du bloß für den Service spionieren?«
»Ich würde meine Mission als inoffiziell betrachten. Ich würde gerne deine Seite der Geschichte kennen lernen.«
King umklammerte sein Glas und unterdrückte den Wunsch, es ihr an den Kopf zu werfen. »Ich habe keine eigene ›Seite‹ in dieser Geschichte. Der Mann hat eine Zeit lang für mich gearbeitet – nicht sehr lange übrigens. Er ist ermordet worden. Heute fand ich heraus, dass er im Zeugenschutzprogramm war. Wer ihn umgebracht hat, weiß ich nicht. Mehr
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