Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
Aufmerksamkeit erregte – und erst wieder losließ, als Ramsey schoss.« Michelle hielt inne und fügte dann hinzu: »Und da die Fahrstühle vom Secret Service abgestellt worden waren, gehe ich davon aus, dass es ein Agent oder eine Agentin gewesen sein muss, denn jeder andere Mensch wäre doch daran gehindert worden. Ich wette sogar, dass die betreffende Person Joan Dillinger war, und ich wette außerdem, dass Sie sie aus irgendeinem Grund decken. Hätten Sie die Güte, mir mitzuteilen, ob ich mit meinen Annahmen vollkommen daneben liege?«
»Selbst wenn Sie Recht hätten, würde das doch keinerlei Rolle spielen. Ich habe Mist gebaut, und Ritter musste deshalb sterben. Da gibt es keine Ausreden, das sollte Ihnen inzwischen ja bekannt sein.«
»Aber angenommen, Sie wären mit voller Absicht abgelenkt worden. Dann sähe die Geschichte schon wieder ganz anders aus.«
»Wurde ich aber nicht.«
»Woher wollen Sie das wissen? Warum sonst sollte jemand ausgerechnet zum Zeitpunkt des Anschlags den Fahrstuhl benutzen?« Michelle beantwortete ihre Frage gleich selbst: »Weil Ramsey wusste, dass der Fahrstuhl eintreffen würde, weil er die Person darin kannte und weil ihm klar war, dass diese Person Sie ablenken und ihm damit die Chance geben würde, Ritter zu töten. Deshalb. Ramsey hat auf den Fahrstuhl gewartet. Seine Ankunft war für ihn das Zeichen, den tödlichen Schuss abzugeben.«
Michelle lehnte sich zurück. Ihre Miene verriet eher Trotz als Triumph, ähnlich wie auf der Pressekonferenz, die King im Fernsehen verfolgt hatte.
»Das ist unmöglich, glauben Sie mir. Es war nichts als schlechtes Timing, allerdings das schlechteste Timing, das man sich vorstellen kann.«
»Es dürfte Sie kaum überraschen, wenn ich Ihnen das nicht abnehme.«
King saß da und schwieg – so lange, dass Michelle sich schließlich erhob. »Vielen Dank für das Mittagessen und die Einführung in die Weinkunde. Aber Sie können mir nicht weismachen, dass ein intelligenter Kerl wie Sie sich nicht jeden Morgen, wenn er in den Spiegel schaut, die Frage stellt: Was wäre, wenn?«
Sie war im Begriff zu gehen, als ihr Handy klingelte. »Wie bitte? Ja, am Apparat. Wer? Mmm, ja, das stimmt, ich habe mich mit ihr unterhalten. Wer hat Ihnen diese Nummer gegeben? Meine Karte? Ja, das ist richtig. Aber ich verstehe nicht, warum Sie mich anrufen…« Sie hörte eine Weile zu, dann wurde sie plötzlich käseweiß im Gesicht. »Oh, das wusste ich nicht. Mein Gott, das tut mir Leid! Wann ist das denn passiert? Ich verstehe. Ja, danke. Haben Sie eine Nummer, unter der ich Sie erreichen kann?« Sie beendete das Gespräch, kramte einen Kugelschreiber und einen Zettel aus ihrer Handtasche, notierte die Nummer und sank langsam in den Ledersessel neben King.
Er sah sie fragend an. »Ist was? Geht es Ihnen gut?«
»Nein, mir geht es nicht gut.«
Er beugte sich vor und legte ihr beruhigend eine Hand auf die zitternde Schulter. »Was ist passiert, Michelle? Wer hat Sie angerufen?«
»Diese… diese Frau, mit der ich mich unterhalten habe… Die damals in dem Hotel arbeitete…«
»Sie meinen das Zimmermädchen, Loretta Baldwin?«
»Das eben war ihr Sohn. Er hat meine Visitenkarte gefunden, die ich seiner Mutter gegeben hatte.«
»Und warum ruft er Sie an? Ist Loretta etwas zugestoßen?«
»Sie ist tot.«
»Wie ist das passiert?«
»Sie ist ermordet worden. Ich habe sie doch über die Ermordung Ritters befragt – und jetzt ist sie tot. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da einen Zusammenhang gibt – aber andererseits kann ich mir auch nicht vorstellen, dass es keinen Zusammenhang gibt.«
King sprang so unerwartet auf, dass sie erschrak.
»Haben Sie noch Benzin im Tank?«
»Ja«, sagte sie und blickte ihn verstört an. »Wieso?«
King schien mit sich selber zu sprechen. »Ich rufe ein paar Leute an und gebe ihnen Bescheid…«
»Wem geben Sie Bescheid?«
»Ich sage alle anderen Termine für heute ab und teile den Leuten mit, dass ich unerwartet verreisen muss.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Nicht nur ich – wir beide, Sie und ich. Wir fahren nach Bowlington, North Carolina, und finden heraus, warum Loretta Baldwin nicht mehr am Leben ist.«
Er drehte sich um und ging zur Tür. Michelle folgte ihm nicht, sondern blieb völlig verdattert sitzen.
King drehte sich erneut um und fragte: »Was ist?«
»Ich glaube eigentlich nicht, dass ich noch mal dort hinfahren möchte.«
King kehrte zu ihr zurück und baute sich mit strenger Miene
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