Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
ungestört unterhalten.
Als der Ober kam und fragte, ob er die Bestellung aufnehmen dürfe, antwortete Michelle automatisch: »Yes, Sir.«
King lächelte darüber, erklärte es ihr aber erst, als der Ober sich entfernt hatte.
»Ich habe Jahre gebraucht, um mir das abzugewöhnen.«
»Abzugewöhnen? Was?«
»Jeden Mann, vom Kellner bis zum Präsidenten, mit Sir anzureden.«
Michelle zuckte mit den Schultern. »Tu ich das? Ist mir noch nie aufgefallen.«
»Kein Wunder, das steckt einem in den Knochen. Wie so viele andere Gewohnheiten.« Er sah sie nachdenklich an. »In einem Punkt sind Sie mir immer noch ein Rätsel.«
Die Andeutung eines Lächelns überflog ihr Gesicht. »Nur in einem? Das ist ja nicht gerade schmeichelhaft…«
»Warum geht so eine Intelligenzbestie wie Sie ausgerechnet zur Polizei oder zu den Diensten? Nicht, dass ich das für ehrenrührig hielte, aber ich kann mir gut vorstellen, dass Sie durchaus andere Möglichkeiten gehabt hätten.«
»Das muss eine genetische Veranlagung sein, glaube ich. Mein Vater, meine Brüder, meine Onkel und meine Vettern sind alle bei der Polizei. Mein Vater ist der Polizeichef von Nashville. Ich wollte immer das erste Mädchen in der Familie sein, das auch zur Polizei geht. Ich hab ein Jahr lang Polizeidienst in Tennessee geschoben. Danach entschloss ich mich, aus der Familientradition auszubrechen, und hab mich beim Service beworben. Ich wurde angenommen – na, und der Rest ist Geschichte.«
Der Kellner brachte das Essen, und Michelle ließ es sich schmecken. King blieb zunächst noch bei seinem Bordeaux.
»Sie sind wahrscheinlich nicht zum ersten Mal hier, hab ich Recht?«, fragte sie zwischen zwei Bissen.
King nickte, leerte sein Glas und begann nun ebenfalls zu essen. »Ich komme oft mit Klienten, Freunden oder Anwaltskollegen hierher«, sagte er. »Es gibt aber in unserer Gegend genug andere Lokale, die ebenso gut sind wie dieses hier – oder sogar besser. Sie liegen zum Teil ganz versteckt in irgendwelchen abgelegenen Schlupfwinkeln.«
»Sind Sie eigentlich Strafverteidiger?«
»Nein. Ich mache in Testamentsvollstreckungen, Stiftungen, Verträgen und dergleichen.«
»Macht Ihnen das Spaß?«
»Es reicht für die Stromrechnung. Sicher nicht der aufregendste Job, den ich mir vorstellen kann, aber die Aussicht hier ist einfach unschlagbar.«
»Das stimmt, es ist wirklich wunderschön hier. Ich kann gut verstehen, dass Sie sich hierher zurückgezogen haben.«
»Es hat alles seine Vor- und Nachteile. Manchmal verfällt man der trügerischen Vorstellung, man lebe hier auf einer Insel der Seligen, und der ganze Stress und Kummer dieser Welt könne einem nichts anhaben.«
»Aber der verfolgt einen überallhin, nicht wahr?«
»Zweitens kann man sich einreden, dass man hier seine Vergangenheit vergessen und ein neues Leben beginnen kann.«
»Aber das haben Sie doch getan?«
»Das war mal so. Aber die Zeiten sind vorbei.«
Michelle tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Okay, warum wollten Sie mich treffen?«
King hob sein leeres Weinglas. »Warum trinken Sie nicht auch ein Schlückchen? Sie sind doch nicht im Dienst.«
Nach kurzem Zögern nickte sie.
Eine Minute später waren die Gläser gefüllt. Nachdem sie ihr Mahl beendet hatten, schlug King vor, sich in eine kleine Lounge zu begeben, die sich an das Restaurant anschloss. Dort ließen sie sich in zwei weichen, alten Ledersesseln nieder und atmeten das Aroma teuren Zigarren- und Pfeifentabaks, angereichert mit dem Duft antiquarischer, ledergebundener Bücher in wurmstichigen Walnussholzregalen, die dicht an dicht die Wände säumten. Hier waren sie ganz unter sich. King hielt das Glas in das Licht, das durch das Fenster fiel, und schnupperte am Bukett, bevor er den ersten Schluck nahm.
»Guter Tropfen«, sagte Michelle, nachdem auch sie davon probiert hatte.
»Geben Sie ihm noch zehn Jahre, und Sie kommen nie mehr auf die Idee, dass das derselbe Wein ist.«
»Ich kenne nur den Unterschied zwischen Korken und Schraubverschluss, sonst hab ich von Weinen keine Ahnung.«
»Das war mein Stand vor acht Jahren. Bier war mir damals sogar lieber – und ließ sich auch besser mit meinem Einkommen vereinbaren.«
»Dann sind Sie also ungefähr zu der Zeit, als Sie den Dienst beim Service quittiert haben, vom Bier zum Wein übergegangen?«
»Ja, damals gab es viele Veränderungen in meinem Leben. Ein Freund von mir war ein exzellenter Sommelier. Er hat mir alles beigebracht, was ich wissen
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