Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
ihm geschwängert, sodass wir davon ausgehen, Roger Canney hat Bobby erpresst. Ferner vermuten wir, Bobby könnte bei Mrs Canneys Unfalltod vor dreieinhalb Jahren die Hand im Spiel gehabt haben, und dass dort der Ursprung der Erpressung zu sehen ist.«
»Mein Gott«, stieß Harry hervor.
»Aber ich habe inzwischen ebenfalls über diese Möglichkeit nachgedacht, Sean«, sagte Michelle. »Bobby hatte ganz offen Affären mit Frauen und gab sich mit Prostituierten ab. Vorausgesetzt, es stimmt, was du annimmst: Weshalb hätte es Bobby stören sollen, wenn die Wahrheit über einen unehelichen Sohn an die Öffentlichkeit gelangt wäre? Warum hätte er sich wegen eines seiner vielen sexuellen Abenteuer erpressen lassen sollen?«
»Vielleicht habe ich eine Erklärung dafür«, sagte Harry. »Ungefähr in dem Zeitraum, von dem Sie reden, befand sich Bobby mitten im Verkauf seines Unternehmens. Viele örtliche Anwälte, die ich kannte, waren im Auftrag der Battles mit der Angelegenheit beschäftigt, darum habe ich praktisch sämtliche Kriegsberichte über die laufenden Verhandlungen zu hören bekommen. Der Käufer war ein großer multinationaler Konzern mit erstklassiger Reputation. Und Bobby galt als Aushängeschild seiner Firma.«
»Daher hätte die Enthüllung, dass er einen unehelichen Sohn hat, den Verhandlungen geschadet«, folgerte King.
»Genau. Wie es sich dann ergab, kam der Geschäftsabschluss zustande, und Bobby besaß mehr Geld, als er jemals ausgeben konnte. Wahrscheinlich war es für ihn so am vorteilhaftesten.«
»Inwiefern?«, fragte King.
»Exzentrisch war er immer schon gewesen, aber in den letzten Lebensjahren wurde sein Verhalten zunehmend… auffällig. Er unterlag heftigen Stimmungsschwankungen. Anfälle von Depression wechselten sich ab mit Anwandlungen realitätsferner Euphorie. Und sein Verstand funktionierte nicht mehr so gut wie früher. Seinerzeit zählte er zu den brillantesten Ingenieuren und Geschäftsleuten, aber dann vergaß er Namen und wichtige Vorgänge. Sein Schlaganfall war keine Überraschung für mich. Ich vermute sogar, dass er davor schon eine Reihe kleinerer, unbemerkter Schlaganfälle erlitten hatte, die seine geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigt haben. Aber wir sind jetzt erheblich vom Thema Erpressung abgewichen.« Harry sah King an. »Entschuldigen Sie meine Weitschweifigkeit.«
»Nein, nein, wir brauchen sämtliche Informationen, die wir bekommen können. Der Zeitpunkt, an dem Bobby die Firma verkauft hat, führt mich zu dem Schluss, dass es Roger Canney allein gewesen sein muss, der den Erpressungsvorsatz fasste. Vermutlich kannte Mrs Canney den Vater ihres Sohnes, oder sie schloss eine Vaterschaft Bobbys zumindest nicht aus. Steve Canney war siebzehn, als er starb. Hätte sie den Vorsatz gehabt, irgendwelche Ansprüche geltend zu machen, hätte sie damit bestimmt nicht so viele Jahre gewartet. Es ist ja nicht so, dass Bobby vor siebzehn Jahren ein armer Schlucker gewesen wäre.«
Harry knüpfte an diese Überlegungen an. »Allerdings kann Roger Canney gewusst haben, dass Steve nicht sein leiblicher Sohn war, und auf den Tod seiner Frau gewartet haben, um Bobby erst danach zu rupfen. Oder er hat deshalb gewartet, weil seine Frau nicht mitgemacht hätte. Mit Sicherheit hat er gewusst, dass Bobby den Verkauf des Unternehmens plant. Diese Absicht war ja in der Öffentlichkeit bekannt.«
»Oder Canney wollte nicht warten, bis seine Frau eines ›natürlichen Todes‹ starb«, mutmaßte Michelle. »Also hat er nachgeholfen, hat sie in den Hohlweg gedrängt und auf diese Weise Bobbys Erpressung ermöglicht.«
»Aber es war Bobbys Auto, das damals den Blechschaden aufwies«, gab King zu bedenken. »Daher ist es viel wahrscheinlicher, dass Bobby die Frau umgebracht hat.«
»Ich mache ja auch nur darauf aufmerksam«, sagte Michelle, »dass Roger Canney ebenfalls ein Motiv für die Ermordung seiner Frau gehabt haben könnte.«
King streifte sie mit einem bewundernden Blick. »Das ist ein bedeutsamer Punkt, Michelle. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.«
»Und wohin führen diese Gedankengänge?«, fragte Michelle.
Das Läuten einer Essensglocke unterbrach die Erörterungen.
»Ich habe Calpurnia gesagt, dass eine Essensglocke altmodisch ist, aber sie behauptet, ich höre nicht mehr so gut und die Glocke sei das einzige Mittel, meine Aufmerksamkeit zu wecken, ohne dass sie auf der Suche nach mir durchs ganze Haus laufen muss. Wollen wir zu Tisch gehen?«
KAPITEL
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